■ Argentiniens Vergangenheits-Nichtbewältigung ist gescheitert
: Die Wiederkehr der Verschwundenen

Plötzlich und unerwartet steht in Argentinien die Vergangenheit der Militärdiktatur (1976 bis 1983), der 30.000 „Verschwundenen“ und Tausenden Gefolterten wieder auf der Tagesordnung. Der Versuch, gesellschaftliche Versöhnung per Schlußstrichgesetz herbeizuführen, ist gescheitert. 1985 hatte der damalige Präsident Raúl Alfonsin die juristische Beschäftigung mit dem staatlichen Morden für beendet erklärt – der jetzige Präsident Carlos Menem schließlich begnadigte Anfang der 90er Jahre auch noch die wenigen Militärs, die zuvor verurteilt worden waren.

Ausgerechnet einer der Mörder, der Ex-Fregattenkapitän Alfredo Astiz, hat nun mit seinen unverschämten Erklärungen in einem Interview für neue erhitzte Debatten gesorgt. Er rühmte sich, der bestausgebildete Mörder des Landes zu sein, und rechtfertigte alle Aktionen „gegen den Feind“. Als er am Montag allerdings vor Gericht als Zeuge aussagen sollte, konnte er sich an nichts erinnern – womit sich die zivile Rechtsprechung des Landes erneut der Lächerlichkeit preisgegeben sah.

In Argentinien rächen sich die Versäumnisse der ersten Generation ziviler Politiker nach dem Ende der Diktatur. Das argentinische Militär hatte abgewirtschaftet, als es auf seinem ureigensten Terrain versagte: Der Krieg mit Großbritannien um die Malwinas/Falklandinseln 1982 ging schmählich verloren. So waren die Ausgangsbedingungen, um die traditionelle Macht der Militärs nachhaltig anzugreifen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen, ungleich besser als etwa im Nachbarland Chile. Doch die Parteipolitiker scheuten den Konflikt. Sie ließen sich darauf ein, daß die staatlichen Verbrechen zwar untersucht wurden, aber ungesühnt blieben. Nur deshalb ist jemand wie Astiz, der direkt am „Verschwinden“ unzähliger Opfer beteiligt war, nicht belangt worden. Nur in der Öffentlichkeit, wenn er auf der Straße erkannt wird, bezieht Astiz regelmäßig Prügel.

Die Regierung hat versucht, dem Sühneanspruch der Opfer und ihrer Angehörigen pragmatisch zu begegnen, und dabei auf den Faktor Zeit gehofft. Aber 30.000 Verschwundene lassen sich nicht so einfach vergessen, erst recht nicht, wenn die Mörder Interviews geben. Andere Gesellschaften, ob Ex-Jugoslawien, Ruanda, Guatemala oder Südafrika, die aktuell vor der Frage des Umgangs mit einer blutigen Vergangenheit stehen, sollten sich die argentinischen Erfahrungen sehr genau ansehen. Bernd Pickert