„Die Rückführung ist ein moralisches Gebot“

■ Die Direktorin der Moskauer Bibliothek für ausländische Literatur, Jekaterina Genijewa, hält den Streit um Beutekunst für reine Politik. Die Bücher, oft in gothisch, interessieren in Rußland kaum jemand

taz: Sie haben öffentlich dazu eingeladen, bei Ihnen in der Bibliothek vorbeizuschauen und Bücher aus der Trophäenmasse mitzunehmen. Was haben Sie anzubieten?

Jekaterina Genijewa: Bei uns lagern 40.000 Bände, wovon etwa 12.000 keine Bibliothek in Rußland braucht. Zufälliges, was im Vorbeigehen eingesammelt wurde. Leider liegt es nicht in meiner Macht, darüber zu entscheiden, ob sie zurückgegeben werden. Meine Aufgabe ist es, die Öffentlichkeit zu informieren und die Bestände zugänglich zu machen. Außerdem versuchen wir, die Eigentümer zu ermitteln.

In Rußland gibt es keine Interessenten? Oder nehmen die Bücher Ihren Sammlungen Platz weg?

Viele Bücher sind in gothisch geschrieben, das so gut wie niemand in Rußland beherrscht. Sie nehmen auch Platz weg, aber vor allem stellen sie ein Sicherheitsrisiko dar, da sie an Orten lagern, die nicht gegen Feuer geschützt sind. Vieles ist schon abhanden gekommen, als die Magazine überflutet wurden, in denen sich die Bücher früher befanden. Ich konnte nicht begreifen, wie man Bücher ausgerechnet dort aufbewahren mußte, wo Wasserleitungen lecken und die Kanalisation tropft.

Es waren Beutestücke nach einem gewonnenen Krieg. Die erbeuteten Trophäen der Wehrmacht wurden in Moskau zur Schau gestellt. Warum sollte keiner mit den Büchern in Kontakt kommen?

Ich verstehe bis heute nicht, warum die Lenin-Bibliothek 45 Jahre lang die Gutenberg-Bibel nicht gezeigt hat. Man kann ja den Standpunkt vertreten, Deutschland sei man nichts schuldig. Aber sollte die Siegermacht nicht stolz darauf sein, was sie sich im Kreig angeeignet hat, und es ihrem Volk zeigen? Es wirkte wohl das Gesetz der Stalinzeit: wegschließen, vorm Volk verstecken. Nicht einmal Experten erhielten bis Anfang der 90er Zugang, und wenn, dann nur in der „Inostranka“ (Bibliothek für ausländische Literatur).

Was hat Sie dazu bewogen, Initiative zu ergreifen und sich unbeliebt zu machen?

Vor viereinhalb Jahren nahm die bilaterale Restitutionskommission ihre Arbeit auf. Nach mehr als 45 Jahren wurde zum ersten Mal darüber gesprochen, und die Teilnehmer haben sich gegenseitig beschuldigt. Damals hat die russische Seite andeutungsweise zugegeben, was für eine Unordnung in den Bücherwaggons herrschte. Viele hielten mich für verrückt, daß ich das Thema angesprochen habe. Im übertragenen Sinne traf das auch zu. Ich hatte begriffen, daß dieses Geschwür, das das Verhältnis zwischen Rußland und Deutschland belastet, beseitigt werden muß.

Beutekunst taucht nicht zum ersten Mal in der Geschichte im Verhältnis zwischen Rußland und Deutschland auf. Können Sie erklären, woher die Verbissenheit auf beiden Seiten rührt?

Die meisten europäischen Museen haben in ihren Sammlungen Gestohlenes oder unrechtmäßig Angeeignetes. Zwischen unseren beiden Völkern stellt sich das Problem komplizierter dar. Es ist eine Eiterbeule, die die beiden totalitären ideologischen Systeme genährt haben, und wir zahlen dafür bis heute. Rückführung ist ein moralisches Gebot. Was wir als Bibliothek unabhängig von politischen Entscheidungen leisten können, haben wir getan. Im Internet ist das „project restitution – spoil the war“ zugänglich. Es enthält Werke und ein komplettes Verzeichnis.

Wie stehen andere Bibliotheksdirektoren zu Ihrer Initiative?

Als die Arbeit der Kommission begann, konnte ich ihre Emotionen nachvollziehen. Damals war eine Reihe Direktoren zugegen, aus Woronesch, Kemerowo und Tomsk. Abends sagte der eine zum anderen: Die suchen ihre Bücher, die sind alle bei mir. Am nächsten Tag gingen die Teilnehmer mehr aufeinander zu. Man versuchte die Sache von der praktischen Seite zu entspannen. Was braucht die Bibliothek in Tomsk heute? Von Kompensation sollte und kann wohl auch nie die Rede sein.

Hat sich der praktische Zugang bewährt?

In der Praxis ist nicht viel geschehen. Deutschland hat aber unseren Bibliotheken viel geholfen. Tomsk braucht wissenschaftliche und technische Literatur. Die deutsche Seite hat beschafft, was in ihren Kräften steht. Doch leider ist eine Menge des Dramas noch immer mit Tomsk verbunden... Braucht Tomsk eine gothische Sammlung, liest die Stadt diese Werke? Wollen wir uns deswegen im 21. Jahrhundert noch die alten Geschichten vorhalten? Es ist reine Politik, an der die Kommunisten kräftig mitwirken. Die deutschen Bücher interessieren hier keinen wirklich. Unsere Hoffnung: Steter Tropfen höhlt den Stein. Allein davon hängt ein Dialog mit dem übrigen Rußland ab.

Und der Präsident?

Er hat getan, was er konnte, und einen Durchbruch versucht. Doch hängt die Entscheidung nicht an ihm. Interview: Klaus-Helge Donath