Kein Schwein ruft ihn an ...

■ ... aber umso mehr strömten zu Max Raabe und seinem Palastorchester, um deren Schlagerkonzert in der Glocke zu sehen

Das ist cool. Gekleidet im engen schwarzen Frack – der von Stärke so durchtränkt schien, daß eine banale Blähung in Kombination mit diesem Kleidungsstück ohne weiteres zu einer unfreiwilligen Bondageperformance mutieren könnte – ,ölig und nasal ein Ströfchen über Annabel, Käthi oder Sigismund ins Mikrophon raunzen.

Dann hinsetzen, wirken wie ein Kühlschrank, der gerade gesungen hat. Kurz darauf wieder aufstehen, das pomadige Haupt zum Applaus neigen. Und unbeeindruckt weiter gesundheitsgefährdend sülzige Schlager über das ergreifende Schicksal von Carmen, dem traurigen Gigolo und der forschen Ruth säuseln. Wer das einen ganzen Abend durchzieht, der ist zweifellos richtig cool. Das ist Max Raabe. Zweifellos.

Mit dem zwölfköpfigen Palastorchester entführte der krächzende und tirilierende Raabe das nicht sehr wehrhafte Publikum in der ausverkauften Glocke ins Deutschland der 20er und 30er Jahre. In eine Welt also, in der man sich in Lichtspielhäusern mit Filmen wie „Durchlaucht amüsiert sich“verlustierte und wo man „Träum in meinen Armen / Und sei heute meine Carmen“reimen durfte, ohne postwendend vermöbelt zu werden. Die schwulstige Bigband-Musik der Ballhäuser und Tanzpaläste – das klingt für manches von zarten AC/DC-Klangbögen geschulte Ohr bedrohlich, war aber durchaus nett anzuhören, weil Raabe tatsächlich ausgezeichnet singt und die Band ausgezeichnet musiziert. Und gut gespielt ist selbst ein schlimmer Ohrenkneifer wie „Käthi war eins / Mit ihrem Karl-Heinz“herzergreifend, erschütternd, wunderbar.

Nach der Pause war das Orchester, das sich zuvor mit der leicht morbiden Aura einer Mumienkapelle umgab – kein Lachen, keine überflüssige Bewegung, nicht einmal Schweiß perlte auf die Lackschuhe – nicht wiederzuerkennen. Ob Extasy im Spiel war? Wer weiß. Neue Anzüge, neuer Schwung, Perkussion, Rasseln – Rumba Tamba! Schon war man geneigt, mit Rücksicht auf die starke geriatrische Fraktion im Publikum „Habt Obacht. Nicht so flott!“zu rufen. Aber ein genauer Blick in die strahlenden Gesichter der ergrauten Damen und Herren förderte vor allem wippende Knie, rote Wangen und im Rhythmus von Foxtrott und Tango ekstatisch zuckende Leiber ans schummrige Licht. Ein wirklich wilder Abend!

Via Meilensteinen der deutschen Literatur verwandelte sich die Glocke derart für zwei Stunden in ein gigantisches Therapiezentrum und vermochte lang Verdrängtes eruptiv an die Oberfläche zu befördern. „Ich steh mit Ruth gut / Ich weiß was gut tut“ließ bei den BesucherInnen die amouröse Vergangenheit lebendig werden. Und als „Bei den Bananen / Begann ich zu ahnen / Bei den Zypressen / Hab ich mich vergessen“erklang, da fielen sie wie Schuppen aus dem schütteren Haupthaar, jene längst vergessen geglaubten Erinnerungen an die –ach! – so zahllosen Urlaubsliebeleien.

Andererseits: Für Liedgut wie „Wenn Du mal in Hawai bist / Und es gerade Mai ist / Und Dein Herzchen frei ist / Dann komm zu mir“wurden in besseren Zeiten Menschen einst lebenslang in dunkle Verliese gesperrt. Und wer wollte widersprechen, daß das Strafmaß angemessen war.

Allerdings war es dort damals ziemlich eng, denn in der Nebenzelle hockte schon seit einiger Zeit der berüchtigte Willi Meisel, der sich mit Libretti a la „Dort tanzt Lulu / ahaha, uhuhu / und ich guck zu“schuldig machte. Doch dank der dick aufgetragenen Portion Selbstironie, mit der Meisel und Konsorten zum Besten gegeben wurden, verflüchtigten sich vorseidran-rückseidran derart trübe Gedanken im Walzertakt.

All das und noch viel mehr trug der Raabe mit dem Palastorchester unerschrocken und getrieben vom Bedürfnis nach schonungsloser Aufklärung über die Vergangenheit deutschen Liedguts in den Saal. Tapfer war die Band. Dafür gab es verdienten Applaus / Danach gingen wir nach Haus / Huhu. zott