■ Mögliche Orte
: Schalterdiskretion und Bankgeheimnis

Zwei schlanke Säulen aus Hartplastik sorgen vor dem Schalter der Sparkasse für Ordnung. „Diskretion“ heißt es darauf und: „Bitte Abstand halten“. Die Bankkunden kommen der gedruckten Aufforderung selbst dann noch nach, wenn der Vorraum vor dem Schalter so überfüllt ist, daß die Warteschlange sich mehrfach krümmen muß. Räume wie dieser provozieren niemandes Renitenz. Ungeduldiges Hin- und Hertrippeln von einem Bein zum anderen ist die einzige Unmutsäußerung, die gestattet ist, wenn die Wartezeit zu lang wird. Man ist nicht allein der Bezieher einer Dienstleistung, sondern zugleich auch Vertragspartner. Trotzdem ist das Dienstverhältnis obrigkeitsförmig organisiert.

Daß der geforderte Abstand widerspruchslos akzeptiert wird, ist das eine, daß man ihn oft gar nicht brauchte, das andere. Ein Griff in den Papierkorb neben dem Kontoauszugsdrucker fördert Geldgeschäfte von namentlich genannten und mit Adresse ausgewiesenen Kunden zutage, die nicht den geringsten Wert auf Diskretion legen. Offenbar erachten sie es nicht für nötig, die Auszüge mit Geldeingängen, Daueraufträgen, Abhebungen und Überweisungen zu vernichten, obwohl sie tiefe Einblicke in die private Lebensführung gewähren. Lohnüberweisungen sind darauf ebenso verbucht wie Mietzahlungen und Kraftfahrzeugsteuer. Die soziale Existenz ist so frei, einen Großteil seiner personenbezogenen Daten preiszugeben.

Ein Kontoinhaber, dessen Dokumente auf einer Ablage neben dem Drucker lagen, hat an drei aufeinanderfolgenden Tagen Beträge von mehr als 500 Mark abgehoben. Wofür braucht der Mann aus Friedenau soviel Geld? Warum hat er nicht alles auf einmal abgehoben? Verweisen die Buchungen auf eine geheime wie kostspielige Leidenschaft? Im Papierkorb neben dem Kontoauszugsdrucker befinden sich weitere Lebensromane. Eine junge Frau bezieht Geld vom Sozialamt sowie die Unterhaltszahlungen eines Kindsvaters. Bringt er nicht wenigstens auch einmal ein Geschenk vorbei? Von wegen Bankgeheimnis: Private Verhältnisse werden von nicht wenigen Bankkunden mit achtloser Geste preisgegeben.

Abgesehen davon, daß eine diskrete Abwicklung des Geschäftsvorgangs durch den Abstand vorm Schalter keineswegs sichergestellt ist. Die Wartenden bekommen meist recht genau mit, was vorne gerade verhandelt wird. Ein Kontoinhaber beschwert sich wütend, daß ein Dauerauftrag über die monatliche Miete von seinem Konto nicht mehr abgebucht wurde, weil der Dispositionskredit bereits überzogen war. Die Wartenden mischen sich nicht in die Verhandlungen ein. Wenn sie an der Reihe sind, werden sie ähnliche Geschäfte abwickeln. Eine ältere Frau wechselt ein paar hundert Mark in italienische Lire um. Sie will sich ein paar schöne Tage in Rom machen. Der eingehaltene Pflichtabstand dokumentiert denn auch eher eine Art allgemein bekundetes Desinteresse, während die totemistischen Säulen den profanen Einzahlungen, Abhebungen und Überweisungen eine sakrale Würde verleihen.

Die Schalterhalle einer Bank ist trotz der Bemühungen um Diskretion ein öffentlicher Raum, in dem soziale Lagen zum Vorschein kommen. Mit Aufkommen der Geldautomaten fürchteten besorgte Zeitgenossen vor einigen Jahren um die gesellschaftliche Funktion der Banken und Sparkassen. Das Gegenteil ist vermutlich der Fall. Die Bankangestellten üben mitunter vielfältige Beratungsfunktionen aus. Das Großraumbüro mit Hydro-Pflanzen und Möbeln aus Stahldesign setzen passend dazu auf Transparenz. Nur die Angestellten in gehobenen Positionen beanspruchen noch abgeschlossene Büros. Ansonsten kann jeder alles sehen. Die Scheckvordrucke befinden sich in einer eigens gesicherten Kassette, zu der nicht jeder Angestellte Zugang hat.

Diskretion und Bankgeheimnis sind für die Konstruktion des Raumes freilich noch immer konstitutiv. Das Bankgeheimnis ist in seiner Funktion mehr oder weniger dem kirchlichen Beichtgeheimnis abgelauscht. Im geheimnisvollen Gebilde der Diskretion sollen die Gläubigen die Überschreitung wagen und ihre Sünden hersagen. Unsere Geldgeschäfte bewegen sich noch immer in einem ähnlichen Arrangement. Harry Nutt