Landtage Von Michael Rudolf

Die feinen Kollegen wußten sich nicht zu lassen vor Neid, weil ich für ein paar Tage das elterliche Anwesen auf dem Land zu hüten hatte. Doch nichts da.

Der Dorfblockwart versieht dort sein Tag- und Nachtwerk, und die nachbarlichen Kreissägen und Rasenmäher flöten schon morgens ihre klare, gefühlvolle Weise dazu. Meine Blicke schweifen über bewaldete Höhen am Horizont, und jeden Moment könnte eine überlebensgroße Spielzeuglok vorbeidampfen. Das wäre kein Wunder, denn die Eingeborenen haben die vormalige Landschaft restlos ihrer Modelleisenbahnästhetik untertan gemacht. Unser Kleidungsstil, das merke ich gleich, ist hier nicht mehrheitsfähig. Und daß ich das Töchterlein bei meinen Erkundungen auf dem Fahrradkindersitz mitführe, veranlaßt die Landbevölkerung, nachdem sie, bis zum Äußersten entschlossen, mit Mistforken und Dreschferkeln herbeigelaufen ist, zu kritischen Kommentaren, die im Ton oberflächlicher Vorurteile gehalten sind. – Wir lassen Milde walten und grüßen mit der Sonne unserer Herzen.

Die örtliche Wirtsstube ist so sauber, daß man sogar von den Tischen essen konnte. Der Dorfkrämer, salopp „Nah-Kauf“ oder besser: „Nahkampf“ genannt, führt seltsamerweise keine Tageszeitungen, dafür ist alles rappelvoll mit einem Killer-Angebot, das eher geeignet scheint, Leute im Vorruhestand zu betören. Die wiederum suchen sogar bei diesen Temperaturen sittlichen Halt am Rostbratwurstgrill, während der aufgedunsene Nachwuchs in spielerischem Miteinander sich in der einzigen Fertigkeit perfektioniert, die hier noch erforderlich scheint: nämlich anderen wahnsinnig auf den Senkel zu gehen. Statt Trost und Rat also Prost und Unrat.

Das häusliche Leben hält unvorhergesehene Prüfungen bereit. Herumstreunende Grundstücksspekulanten gilt es abzuwehren, dann noch kälteresistente Schmeißfliegengeschwader, die draußen jeden Kuhfladen zu einem schillernden Juwelenteller veredeln, sich aber genauso vom Küchentisch angezogen fühlen, wenn wir aus Versehen mal ein Fenster öffnen. Der Keller quillt über vor aufgestapelten Weinpräparaten (Spätlese), und die Kartoffeln fliehen mit wuchernden Keimtentakeln die Auf- und Zubereitung. Nach längerem Suchen finde ich tatsächlich einige bunt durcheinandergewürfelte Schwarz- und Kräuterteebeutel. Dafür macht das Gasherdungetüm keine Anstalten zu friedlicher Koexistenz, selbst simple Spiegeleier verkommen zur Bewährungsprobe. Und die Gewürze legen, Restwürzkraft und Tütendesign anbetreffend, ein Verfallsdatum nahe, das ohne Mühe in der Phase der ersten Beatles-Erfolge anzusiedeln ist. Man könnte glatt den Koller kriegen.

Auch mit dem Strom scheint hier einiges nicht zu stimmen, rätselhaft verschwindet er immer wieder in den Steckdosen oder traut sich gar nicht erst heraus. Die Schreibmaschine will sowieso nur rückwärts schreiben. Selbst der nächtliche Mond sieht aus, als wenn er heute mächtig eins auf die Lampe bekommen hätte, irgendwie so schräg eingebeult.

Germanisten und Genealogen künftiger Zeiten werden diesen Ort als den benennen, an dem früher meine Wiege stand. Schon jetzt bin ich bereit, ohne Wenn und Aber von diesem Irrglauben abzufallen. Zu wenig spricht dafür.