"Ich fahre gerne bergab"

■ Gespräch mit Radprofi Jan Ullrich (24), der sich im mallorquinischen Trainingslager mit seinem Team auf die nächste Saison vorbereitet, die für ihn hauptsächlich aus der Tour de France bestehen wird

Das ist der Jan Ullrich“, raunt ein übergewichtiger Tourist seiner Tischnachbarin zu. „Wer?“ fragt sie zurück und gibt die Neuigkeit per Flüsterpost weiter. Vergeblich wartet die deutsche Radsporthoffnung für 1998 in diesen Tagen im noch deutscheren El Arenal auf Mallorca darauf, einmal ganz in Ruhe gelassen zu werden beim Training mit den Kollegen. Einerseits hat Ullrich, inzwischen aller Fragen überdrüssig, bereits vor dem Saisonstart keine Lust mehr, schreibenden und filmenden Mitmenschen Rede und Antwort zu stehen, andererseits lebt der Edelprofi bei geschätzten drei Millionen Mark Werbeeinnahmen pro Jahr ganz gut vom lästigen medialen Interesse. Das weiß er auch, und so läßt sich der Medienscheue schließlich doch bereitwillig herbei, freundlich Auskunft über sich und die kommende Saison zu geben.

taz: Herr Ullrich, Sie haben ein hartes Jahr hinter sich: Sieg bei der Tour de France, jede Menge öffentliche Auftritte, jede Menge Interviews und dämliche Fragen. Welche wollen Sie heute auf keinen Fall hören?

Jan Ullrich: Wie oft ich in Zukunft die Tour de France gewinne. Eine dumme Frage. Woher soll ich das wissen? Das weiß keiner.

Jetzt kommen ja erst mal die Frühjahrsklassiker, bei denen ...

... ich mich jetzt noch gar nicht festlegen will. Mailand–San Remo würde ich gerne fahren. Und wenn ich bis dahin in Form bin, gehe ich auch die belgischen Klassiker an...

... und dann – fünf Mark ins Dumme-Fragen-Kästchen – am besten gleich die berüchtigte Flandern-Rundfahrt gewinnen?

Wer als junger Fahrer im Sommer schnell sein will, der kann die harten Klassiker im Frühjahr nicht auf Sieg fahren. Wenn ich bei Mailand–San Remo wieder mit der ersten Gruppe ankomme, bin ich zufrieden.

Sie setzen also alles auf die Tour-Karte.

Das Risiko muß ich eingehen.

Und wenn es nicht klappt, ist die Saison vorbei und außer Buh-Rufen nicht mehr viel zu hören.

Mag sein. Aber auch, wenn mich die Öffentlichkeit bereits in die Rolle des ewig Erfolgreichen gedrängt hat, ich bin noch nicht soweit wie beispielsweise Bjarne Riis, der schon lange als Profi fährt. Wenn der das Amstel-Gold-Race gewinnt und 'ne richtige Pause macht, kann er im Juli immer noch in Topform sein. Ich muß mich auf eine Sache konzentrieren, und das wird die Tour sein.

Immerhin, die Zeichen stehen trotzdem günstig. Die Tour 98 ist vom Profil wie auf Sie zugeschnitten.

Ach, zugeschnitten hin, zugeschnitten her. Die Tour ist immer schwer. Gut, es sind wieder zwei Einzelzeitfahren drin ...

... die beide über relativ flache Strecken gehen.

Na ja, nicht flach, wellig, auch wenn es natürlich stimmt: Es sind keine Bergzeitfahren dabei wie noch 96 und 97. Aber trotzdem, es sind sehr schwere Zeitfahren, und schließlich sind ja die Pyrenäen und die Alpen auch noch mit im Programm.

Und all die Konkurrenten mit im Rennen, die Ihnen auf die Pelle rücken wollen. Wer sind Ihre Tour-Favoriten?

Die, die schon seit Jahren vorne fahren. Die Voraussetzungen, zu gewinnen, haben nun mal nicht mehr als 10 oder 15 Fahrer.

Das Team Festina hat sich mit Alex Zülle verstärkt. Sicherlich ein Klassement-Fahrer.

Zülle, das habe ich jedenfalls gehört, soll den Giro auf Sieg fahren. Ob es dann bei der Tour noch optimal für ihn läuft, ist die Frage. Das kann in die Hose gehen. Außerdem wird sich Richard Virenque bei Festina sicherlich nicht einfach runterstufen lassen. Der will die Tour selbst gewinnen und nicht Zülle den Vortritt lassen.

A propos Virenque: Sprechen Sie denn inzwischen Französisch?

Oh je, nein, immer noch nicht.

Und was, wenn Sie wieder mit Virenque am Berg alleine gelassen werden?

Vielleicht kann er ja jetzt Deutsch.

Sie scherzen.

Ich glaub's ja auch nicht. Und ich nehme mir ja auch vor, endlich Französisch zu lernen. Aber ich bin nun auch nicht das Sprachtalent, dem das so leicht fällt, dann verschiebt man's immer, und auf einmal ist der Winter wieder rum.

Bei der Tour hatten wir manchmal das Gefühl, Sie tun sich auch mit dem Bergabfahren schwer.

Ich fahre gerne bergab.

Auch schnell?

Ja, auf alle Fälle. Ich bin eigentlich ein sehr guter Abfahrer, der nie Probleme hat, das Hinterrad zu halten. Aber im Gelben Trikot gehen dir plötzlich die verrücktesten Gedanken durch den Kopf: Das ist zu riskant! Paß auf, wenn du stürzt, ist das Gelbe Trikot weg! Nur daran denkst du noch. Aber was soll's? Wenn man dann 20 Sekunden zum Vordermann verloren hat, fährt man die eben am nächsten Berg wieder rein.

Sie lassen sich beim Training immer noch von Peter Becker beraten und sind damit einer der wenigen Profis, die sich einen Privattrainer leisten.

Ich bin immer wieder froh, daß er gerne mit mir zusammenarbeitet. Wir kommen wunderbar miteinander aus. Er ist wie ein väterlicher Freund, der mich unterstützt, der richtig den Durchblick hat in diesem Sport und mit dem ich über Dinge reden kann, die ich sonst keinem anvertrauen würde.

Vertrauen Sie uns doch mal an, wie man das als vernünftiger Mensch aushält: tagtäglich stundenlang durch die Gegend zu strampeln.

Mir macht es auch keinen Spaß, so lange auf dem Rad zu sitzen. Januar, Februar, März, das sind die schrecklichsten Monate der ganzen Saison für mich. Aber du wächst ja schon als kleiner Junge rein in diesen Sport. Ich habe mit knapp 10 Jahren angefangen, da kennst du es gar nicht anders. Außerdem ist es einfach klar: Wenn du große Leistungen bringen willst, mußt du auch vom Kopf her bereit sein, dieses Training zu machen.

Und was ist da so los in diesem Kopf, während Sie schwitzend durch die Gegend radeln?

Wenn ich alleine bin, denke ich über alles mögliche nach, nicht nur über den Sport. Aber auch darüber: was ich beim Training verbessern kann, an die nächsten Wettkämpfe und wie ich da fahre...

... und wie Sie im Sommer wieder im Gelben Trikot auf die Champs-Élysées einbiegen, und die Menschen jubeln.

Na ja.

Sie wollen die Tour doch wieder gewinnen?

Ganz klar.

Bjarne Riis will das auch. Ist da der Konflikt nicht vorprogrammiert?

Wir verstehen uns gut, wenn ich das mal sagen darf.

Sieht das der dänische Kollege genauso?

Bjarne hat gesagt, er habe den besten Helfer gehabt, als ich 96 an zweiter Position lag und dann 100 Prozent für ihn gefahren bin. Letztes Jahr ging es mir so. Bjarne war einer der Stärksten im Peloton, und er ist 100 Prozent für mich gefahren. Ich halte diese Konstellation sogar für einen enormen Vorteil, den die anderen Mannschaften nicht haben.

Vorteil?

Die anderen haben nur einen Kapitän, und danach kommt lange nichts. Bei uns können viele die Führungsrolle übernehmen. Nicht nur Bjarne und ich, auch Udo Bölts und alle, die bei der Tour so stark gefahren sind. Die anderen Mannschaften können uns deshalb nur sehr schwer ausrechnen.

Und wenn Sie sich nicht einig werden?

Dann wär' es natürlich ein Nachteil. Aber die letzten zwei Jahre – und ich bin überzeugt, daß es auch so weiterläuft – hat es doch gut funktioniert. Ich sehe das Team Deutsche Telekom als eines der besten der Welt.

Gute Aussichten also für die neue Radsporteuphorie. In Deutschland, wo sich kaum noch jemand für Radsport interessiert hatte, kommt es mittlerweile zu Menschenaufläufen, wenn Sie nur bei einem x-beliebigen Kirmesrennen an den Start gehen.

Mich macht das stolz, wenn anstatt 5.000, wie es früher immer war, jetzt auf einmal 40.000 Leute an die Strecke kommen, bei jedem Wetter und ...

... ihren neuen Nationalhelden bejubeln wollen. Ein traditionelles Bewußtsein für den Radrennsport, wie in den klassischen Radsportnationen, gibt es ja nicht.

Klar, die Deutschen haben die Tour zwar verfolgt und sind jetzt auch sehr interessiert, aber Sie haben natürlich nicht die Ahnung wie die Franzosen und Italiener, die seit Jahren begeisterte Fans sind und über alles Bescheid wissen.

Ihr Teamkollege Erik Zabel hat das krasser ausgedrückt: „Steffi is nich mehr ganz so gut druff, Boris tritt ab, und Schumi hat halt nen kleenen Fehler gemacht. Man hat das Gefühl, es wird ein neuer Superstar gesucht.“ Keiner fragt nach dem Rest der Mannschaft.

Das ist die Mentalität der Deutschen, und die Medien haben das ja auch gefördert. Der erste deutsche Tour-Sieger. Da ist es ganz schwer, die Mannschaft in den Vordergrund zu stellen.

Und wenn Erik Zabel und Bjarne Riis sich hier nach dem Training zusammen in ein Café in El Arenal setzen, werden sie von deutschen Urlaubern gefragt: „Ist Jan Ullrich auch dabei?“

Was soll ich dazu sagen? Ich glaube trotzdem, daß es während der Tour auch rüberkam, daß es ohne das Team nicht geht.

Und was wird, wenn es bei Ihnen auch mit Team nicht gut läuft? Ihr Kollege Erik Zabel vermutet, daß die öffentliche Stimmung dann wieder ins Gegenteil kippt. „Wird Jan bei der Tour nur Fünfter“, hat er gesagt, „dann wird die große Keule rausgeholt.“

Sicher wird es schwer für mich werden, wenn ich dieses Jahr schlecht fahre. Dann bin ich schnell wieder ganz unten. Das ist in Deutschland nun mal so.

Verraten Sie uns doch mal, wie ist das, wenn Sie sich mit Ihrer Freundin bei Kerzenlicht in einem hübschen Restaurant einen schönen Abend machen und plötzlich von Fans umzingelt werden. Überkommen da auch einen zurückhaltenden Menschen wie Sie schon mal Mordgelüste?

Mordgelüste nicht gerade ...

Aber?

Wenn die nur ein Autogramm wollen, ist es ja in ein, zwei Minuten erledigt. Man gewöhnt sich daran, solange es im Rahmen bleibt.

Und wenn nicht?

Na ja, es gibt ja auch Tage, an denen ich nicht so supergut drauf bin und meine Ruhe haben möchte.

Also würden Sie doch am liebsten aus der Haut fahren!?

Dann beende ich erst mal das Gespräch und fertig. Interview: Mirjam Fischer