Sein Glück war schrecklich

■ Mit dem Charakter eines Clowns: Zum 100. Geburtstag des Filmregisseurs Sergej Eisenstein erscheint eine erweiterte Neuausgabe seiner Autobiographie "Yo. Ich selbst"

Wie einen Mann beurteilen, der mit ernster Miene empfiehlt, Museen bei Nacht zu besuchen? Ihn für verrückt erklären und sagen: Unmöglich? Dem Mann, der schier Unmögliches möglich machen wollte, war es nicht möglich, seine Memoiren zu beenden. Er starb, gerade 50jährig, weltberühmt seit fast einem Vierteljahrhundert. Er hinterließ einen Berg Papier: beschriftet mit autobiographischen Aufzeichnungen.

Es bedurfte der Jahre, der Jahrzehnte, um das monumentale Memoirenwerk zu arrangieren. Auf starkes, gelbgetöntes Papier gedruckt, erschien die stämmige Selbstdarstellung des Sergej Michailowitsch Eisenstein (1898 bis 1948) Mitte der Achtziger im Ostberliner Henschel Verlag. „Yo. Ich selbst“ war das spät publizierte, zweibändige Bekenntnisbuch des russischen Regisseurs überschrieben. Um 100 Seiten ergänzt und aktualisiert, wurde das Memoirenmonument jetzt abermals aufgerichtet.

Heute, morgen, übermorgen mit den Bänden beschäftigt, kommt beim Leser nie das Gefühl auf, auch nur eine Stunde zu verschenken. Als Ingenieurhochschüler kassierte Eisenstein im Nebenberuf eines Karikaturisten seine ersten Rubel. Die Ausgabe präsentiert Zeichnungen und Arbeitsskizzen des Frühreifen, der sich auch als Dekorationsmaler und Bühnenbildner bewährte, bevor der Regisseur der Regisseur wurde.

Der weiteren Auflockerung der Autobiographie dienen auch viele Fotodokumente. Und, selbstverständlich, gibt es ein ausführliches Kapitel zum Thema „Zwölf Apostel“. Jenem Schiff, das Eisenstein, wie meist allen Unmöglichkeiten trotzend, herrichten ließ, um seinen Film „Panzerkreuzer Potemkin“ zu drehen, der auf der Brüsseler Weltausstellung von 1958 das Prädikat „Bester Film aller Zeiten“ bekam.

Ohne Respekt vor Autoritäten

Das kinematographische Geniestück setzte den 27jährigen auf das hohe Roß des Ruhms. Forsch und forschend, fordernd und formend, sich stets staatlichem Dogmatismus widersetzend, schuf Eisenstein kein umfangreiches, doch ein unvergleichliches Filmwerk. Nach dem Schlüssel zu seinem Schöpfertum gefragt, wechselten seine Antworten. Vor „Tradition und Autoritäten keinerlei Respekt“ zu haben war seine Chance, den Boden für eigene Tradition und Autorität zu bereiten. Das bestätigen Seite um Seite seine szenisch-skizzenhaften Memoiren. Er wußte, wer er ist – und was wert. Das sagte der Selbstbewußte selbstsicher. Der Vielbegabte liebte die Clowns und gestand, daß er sich dieser Liebe als Kind „immer ein wenig schämte“. Der russische Regisseur hatte selbst den Charakter eines Clowns. Seine Ich- und Weltchronik verheimlicht das nicht.

Direkter als in den Eisenstein- Memoiren ist manches über ihn in der Monographie von Iwan Axjonow zu erfahren. Als Lehrer und Rektor begegnete er bereits dem bei Meyerhold studierenden Eisenstein. Axjonow, 1935 eines natürlichen Todes gestorben, erlebte die Veröffentlichung seines Eisenstein-Buches nicht. Sie erfolgte erst 1991 in Moskau. Den Autor traf die Mißbilligung der Behörden, weil der Beschriebene in der Sowjetunion gerade wieder einmal in Mißkredit geraten war.

Für Iwan Axjonow ist Sergej Eisenstein ein Mensch mit Hunger nach Kunst und deshalb ein Begeisterter und Begeisternder. Angestiftet von der Begeisterung, macht dem Autor das Fachsimpeln über ein außergewöhnliches Talent soviel Freude wie das Fabulieren über Biographisches. Eisenstein stammte aus einer tüchtigen Seefahrersippe, abgesehen vom Vater, der sich als Architekt auf dem Festland festgesetzt hatte. Dieses Schicksal hätte auch dem ständigen Klassenprimus Sergej Michailowitsch widerfahren können, wäre der Rigaer dank der Revolution nicht auf das Theater Meyerholds und das jüngste Kind der Kunst gestoßen: das Kino. Eisensteins Liebesverhältnis zur Filmleinwand war das heftigste.

Der Theaterregisseur und der Filmemacher

Wenn die Zuschauer in den Jahrzehnten noch nicht herausgefunden haben sollten, weshalb Häfen, Meer, Wasser bei Eisenstein eine Hauptrolle spielten, nun wissen sie es. Axjonow klärt auch, weshalb das Zeittempo zu einem Stilmittel für Eisenstein wurde. Axjonow hat Eisenstein bereits beachtet und das Beachtliche wahrgenommen, als er ein Unbekannter und unbeachtet war. Keiner war dem Theaterregisseur so nah und hat so genau über die Theaterarbeit Eisensteins geschrieben. Das macht das Buch bedeutend. Detailliert gibt Axjonow Auskunft über Ansätze, Absichten, Bedingungen des Inszenierens. Über die nie erlahmende Intensität des Inszenierenden. Der Porträtist weist anschaulich nach, daß Impulse, die den Weltfilmregisseur ermöglichten, bereits den Theatermacher antrieben.

Dem Leser bleibt schließlich nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, daß dieser Autor über Eisensteins Tun besser Bescheid wußte als Eisenstein selbst: „Der gnadenlose Künstler liebte und wurde geliebt. Sein Glück war schrecklich.“ Bernd Heimberger

Sergej Eisenstein: „Yo. Ich selbst“. 2 Bände. Herausgegeben von Naum Klejman und Walentina Korschunowa. Henschel Verlag, Berlin 1998, 1.252 Seiten, 98 DM

Iwan Axjonow: „Sergej Eisenstein“. Henschel Verlag, Berlin 1997, 142 Seiten, 28 DM