Leben in Schwarz

Eine Stunde Styling pro Tag, einen Totenkopf auf dem Altar in der Wohnung und ein schwarzes Handy vom Papa: Vier Grufties aus Berlin pflegen ihre dauerhafte Liebe zum Dunklen vor allem für das gute Gefühl, gesehen zu werden  ■ Von Jana Simon

Jeder von ihnen ist ein Kunstwerk. Liebevoll nach oben betonierte schwarze Haare, weiß gepuderte Gesichter, ein Make-up, daß Iwana Trump vor Neid kollabieren würde. Spinnennetze über den Augen, dunkle Lippen, zartblauer Lidschatten, Silberringe, die den ganzen Finger verhüllen. Die Kleider sind schwarz, von barocken Rüschengewändern bis zu Vampir-Umhängen. Langsam bewegen sich die Gestalten im Nebel der Tanzfläche um ein umgekehrtes Kreuz. Es ist „Dark Monday“ im Berliner Duncker-Club, und es sieht so aus, als hätte die „Adams- Family“ einen Ausflug in den Prenzlauer Berg unternommen. Im Hof des Clubs trinken schwarze Grüppchen Gin Tonic und befestigen ihre Frisuren alle Stunde mit Drei-Wetter-Taft. Der größte Feind des „Grufties“ oder „Gothic“, wie sie lieber genannt werden, ist zweifellos der Regen.

Eine Stunde, manchmal auch länger, braucht Svarta van der Katt täglich, um sich und seinen Freund Mario von Leja straßenreif zu stylen. Mit einem Kreppeisen wellt er die Haare, dann toupiert er sie an, kämmt das Toupierte wieder aus, zerrt sie nach oben und überzieht sie mit einer dicken Schicht Lack. Marios Haare zeigen danach in zwei unterschiedliche Richtungen himmelwärts. Svarta kann darauf verzichten, vom vielen Färben und Toupieren sind seine Haare „irgendwann abgebrochen“. Seitdem trägt er Glatze und ein Haarteil.

Mario und Svarta leben in einer Kreuzberger Hinterhaus-Wohnung. Die beiden haben Besuch von ihren zwei Freunden Cassandra de Point du Lac und Wolf von Wolfenstein, die eigentlich Sabine und Jürgen heißen.

Der größte Feind der Grufties ist der Regen

Was die vier verbindet, ist die Lust am Verkleiden, am Auffallen, am Morbiden. Wolf ist mit 34 der älteste, kommt aus einer westdeutschen Kleinstadt und war zuerst Punk: „Der ganze Siff und Terror, der da abgegangen ist, hat mich dann aber genervt. Da habe ich angefangen, mich schwarz anzuziehen.“ Seine Eltern weigerten sich fortan, mit ihm gemeinsam vor die Haustür zu treten. Svarta meint, das käme daher, daß das Outfit der „Gothics“ das Extremste überhaupt sei. „Die Technoleute sind bunter und fröhlicher und deswegen auch akzeptierter.“ Er selbst kommt aus Stuttgart und hat mit 14 entschieden, „Gruftie“ zu werden. Erst wohnte Svarta bei einer Berliner Tante, kam dann ins Jugendheim und danach ins betreute Wohnen. Jetzt lebt er mit Mario in dieser Kreuzberger Zwei-Zimmer- Wohnung. Seine Mutter ist an Krebs gestorben. Sein Vater arbeitet als Filialleiter bei „irgendsoeiner Firma“ und verdient 15.000 Mark im Monat. Er hat seinem Sohn ein Handy geschenkt, um mit ihm in Kontakt zu bleiben. Wenigstens ist es schwarz. Der 24jährige mit den traurigen Augen raucht ununterbrochen und schaufelt unzählige Löffel löslichen Kaffee in seine Tasse.

Sein Freund Mario ist schweigsam. Mit 13 hat er seinen Hang zu Hexen und ähnlichen Wesen festgestellt. Das Böse und Schwarze faszinierte seine kindliche Seele. Marios Mutter feierte, soweit er sich erinnern kann, immer nur Parties und hat ihn in seiner Begeisterung für alles Abgründige unterstützt. Er ist trotzdem mit 16 von zu Hause weg. Sein Alter und seinen Geburtsort will er nicht preisgeben. Der Dialekt deutet Richtung Süden, Sachsen vielleicht.

Cassandra ist die jüngste und wohnt noch bei den Eltern im Plattenbau. Ihr Stiefvater ist Polizist und hat sie, als sie das erste Mal schwarz auftauchte, beiseite genommen: Sie solle sich von Sekten fernhalten.

„Gruftie“ oder „Gothic“ zu sein ist für die vier ein Lebensgefühl, ihre Kreativität auszuleben, sich von den spießigen Eltern abzusetzen und mit den Reaktionen der Menschen auf der Straße zu spielen. Sie graben keine Leichen aus und kreuzigen keine Meerschweinchen. Satanismus, der oft mit den Schwarzen in Verbindung gebracht wird, halten sie für Blödsinn, den nur eine ganz kleine Minderheit betreibe. „Ich glaube nicht, daß die deutsche Übersetzung der Bibel rückwärts gesprochen irgend eine Bedeutung hat“, sagt Svarta und kippt die zehnte Tasse löslichen Kaffee.

Er sei Kelte, sagt er, und vollziehe hin und wieder ein keltisches Ritual. Das nennt sich „erden“. Dafür geht Svarta am liebsten in die Nähe eines Flughafens. Dort setzt er sich mit Blick auf die Landebahn, atmet tief ein und versucht „die Energie der Erde, die Erdwellen, aufzunehmen“. Er findet Flugzeuge so beruhigend. An manchen Tagen spricht er auch Bann- oder Schutzformeln. Dazu zieht er seine schicksten Klamotten an, trinkt einen Schluck Wein und opfert den Göttern etwas Schokolade. Für jede der vier Himmelsrichtungen bzw. Elemente hat er ein Symbol – für Feuer einen Panzer, für Luft ein Flugzeug, für Wasser ein Schiff und für die Erde ein Auto. Dann ruft er die Windgeister an und spricht bestimmte Machtworte und wünscht sich, geschützt zu werden vor bösartigen Gedanken oder Geistern.

Sie kreuzigen keine Meerschweinchen

Wenn die vier die Straße lang gehen, bleiben die Leute stehen, manche bekreuzigen sich. Ältere Menschen sind von ihrem Aufzug begeistert. „Vor allem Omas freuen sich richtig, wenn sie uns sehen – wegen der Rüschen und Spitzen“, sagt Mario. Skinheads mögen die Klamotten weniger. Wolf wurde in der U-Bahn beinahe zusammengeschlagen, die Rechten hielten ihn für einen Punk. Zum Glück griffen Mitfahrer ein. Dabei sind die „Grufties“, neben den „Love and Happiness“ verkündenden Techno-Jüngern heute vielleicht die unpolitischste Jugendkultur überhaupt. Es gibt sie seit den späten 70er Jahren, mit ihrer Düsternis demonstrierten sie ihre Machtlosigkeit angesichts von Aufrüstung und Umweltzerstörung. Ihre lebendigste Zeit waren die frühen 80er Jahre, jetzt lebt die „Dark-Bewegung“ wieder auf und vermischt sich mit anderen Stilen wie Heavy Metal und Industrial.

Wolf, Mario und Svarta interessieren sich eher wenig für das, was in Bonn oder anderswo passiert. Musik und Styling sind wichtiger. Ihr Outfit sichert ihnen einen guten Platz in der Gruftiehierarchie, die sich hauptsächlich danach richtet, wer die schrägsten Klamotten anhat und am längsten in der Szene ist. Für ihre Lieblingsmusik von Marc Almond bis Juliane Werding (wegen ihrer Texte über die Reinkarnation) wagen sich Svarta und Mario sogar öfter in den Ostteil Berlins. Gern kommen sie nicht, Svarta, der Westler, haßt die Plattenbauten.

Nach der Wende seien die beiden Szenen aus Ost und West „ziemlich hart aufeinandergeprallt“, sagt Cassandra. Rubi, die Barfrau aus dem Duncker-Club bestätigt: „Die von drüben kamen in feinster Seide, und wir standen hier mit abgeschnittenen schwarzen Jogginghosen“. Das ganze war also eher eine Materialschlacht als eine ideologische Auseinandersetzung.

In den Großstädten der DDR gab es schon in den achtziger Jahren eine starke Gruftiebewegung. Jungen mit Anzügen und Hüten aus den Zwanzigern, gegelten Haaren und Mädchen, kettenbehängt wie Madonna in ihrer Anfangszeit und Frisuren, die aussahen wie Yuccapalmen, warteten stundenlang vor den Hinterhausklubs, in denen sie dann reichlich Cola-Wodka genossen und ihrem Idol Robert Smith von „The Cure“ huldigten.

Obwohl sie auch damals schon im Gegensatz zur Hippie- oder Punkbewegung eher unpolitisch waren, provozierten ihre kajalumrandeten Augen und ihre Grabeskluft einige Tobsuchtsanfälle seitens der ostdeutschen Obrigkeit. Sie paßten so gar nicht in das Bild, das diese so gern von ihrer Jugend malte. Schwarz statt rot. Depression statt leuchtender Zukunft. Kreuze statt Marx. Die Lehrer hatten viel zu tun – damals. Jeden Tag Kruzifixe einsammeln, 13- und 14jährige Mädchen nach Hause schicken zum Schminkeabwaschen, und selbst die schicken schwarzen Anzüge der Jungen waren plötzlich irgendwie verdächtig. Kurzum, eine Szene gab es schon vor dem Mauerfall, und danach mußte der Kampf um die Lokalitäten und die Rangordnung, wie es Svarta nennt, neu ausgefochten werden.

In voller Gruftiemontur als Krankenpfleger

In Berlin hat der Ostteil der Stadt gewonnen: Das Zentrum der Szene hat sich dorthin verlagert. Neue Clubs machen auf und locken die schwarze Kundschaft mit „Special Nights“ und „Dark Parties“. Insgesamt soll es in Berlin etwa 1.000 Grufties geben, deutschlandweit etwa 20.000. „Wir werden wieder mehr“, freut sich Wolf.

Svarta hat die Büchse löslichen Kaffee inzwischen leergelöffelt und wendet sich dem Wein zu. Unter der weißen Schicht in seinem Gesicht geht es ihm ganz gut. Depressionen und und Todessehnsucht, die den Grufties nachgesagt werden, haben die vier eher selten. In dem schwarzgestrichenen Zimmer mit Altar und Totenkopf lacht Svarta ganz „ungruftig“. Er malt seltsame, düstere Bilder und träumt von einem 5/86er Computer, mit dem er Grafiken zeichnen kann, derzeit malt er noch per Hand: seltsame Bilder in Schwarz und Lila. Ansonsten besucht er eine Schule, „für Loser“, wie er ergänzt. „Da gehen die Leute hin, die es halt nicht so gerafft haben. Die wiederholen das Abi solange, bis sie es haben.“ Später will er einmal in einem großen Büro vor einem riesigen Computer sitzen – Svarta auch, zwischen Topfpflanzen und blondgesträhnten Sekretärinnen.

Wolf hat den Kontakt zu seinen Verwandten völlig abgebrochen. Jetzt arbeitet er in voller Gruftiemontur als Krankenpfleger. Viele Patienten bewundern ihn für sein ausgeflipptes Äußeres. In seinem anderen Leben war Wolf verheiratet und hatte ein Kind, aber das ging schief. Jetzt ist er mit Cassandra, seinem „schwarzen Engel“ zusammen und träumt davon, unabhängig zu sein – vielleicht als Leichenbestatter. „Das ist die größte und letzte Ehre, die man einem Menschen erweisen kann.“

Cassandra findet es „auch echt traurig, wie mit den Toten umgegangen wird“. Sie geht gern auf Friedhöfen spazieren, da könne man in Ruhe nachdenken. Cassandra lebt von Sozialhilfe und weiß momentan nicht so richtig weiter – Millionärin wäre nicht schlecht. Da glänzen auch die Augen von Mario. Er würde gern eine Frau heiraten, „nur so zum Spaß“. Eine richtige Rokoko-Hochzeit stellt er sich vor. Mit ausholenden Armbewegungen beschreibt er die Perücken und Kleider seiner imaginären Gäste. In einem richtigen Schloß eine Woche feiern.

An diesem Tag wollen die vier noch auf den Kurfürstendamm. Bevor sie rausgehen, werfen sie einen lustvollen Blick in den Spiegel. Schön. Schön häßlich. Im Treppenhaus klappt den Nachbarkindern die Kinnlade herunter. Auf der Straße bleiben die Leute stehen, kichern, schütteln ungläubig die Köpfe. Mario, Svarta, Wolf und Cassandra sind 24 Stunden am Tag auf dem Laufsteg – und genießen es. Als sie die neue Kreuzberger Kneipe „Alptraum“ passieren, brechen drinnen Begeisterungsstürme aus. Die vier stelzen scheinbar ungerührt weiter. Später sagt Svarta: „Hey, wollen wir da nochmal vorbeigehen?“ Die anderen grinsen.