Göttliche Kühlhausmorde

■ Dimiter Gotscheffs kalte „Hermes in der Stadt“-Inszenierung

Hermes liegt auf Eis. Verborgen unter einem weißen Tuch ruht der griechische Gott als Säugling in einem dicken Eisblock. Eine breite Eisschicht liegt auch über Dimiter Gotscheffs Inszenierung von Lothar Trolles Stück Hermes in der Stadt. Kaltes Scheinwerferlicht auf kahler Bühne. Kühle, emotionslose Gesichter. Nur die staubigen Schuhe unter den glitzernden Abendroben und eleganten Smokings deuten den Schmutz an, der sich hinter der glatten Fassade der Coolness verbirgt. Es ist die Coolness der achtziger Jahre, in denen das Stück des Ostberliner Autors kurz vor der Wende entstanden ist.

Wenn gleich anfangs einer der sechs anonymen Gewalttäter die Bibel in einem Reißwolf zermalmt, steht das Motto des Abends fest: Keine Gebote hindern mehr am Stehlen, Morden und Vergewaltigen. Ein Panoptikum der Gewalt öffnet sich. Hauptperson ist Hermes, der griechische Gott der Diebe und der Kunst. Er ist als Sinnbild der emotionslosen Gewalt direkt vom Götterhimmel in unsere Städte gezogen. In vier Szenen entwirft Troll eine Collage des Bösen, die Mythologie und alltägliche Kriminalität miteinander verknüpft.

Im Stil von Zeitungsberichten erzählen die sechs Hermes-Darsteller diverse Verbrechen nach. Doch während Catrin Striebeck die blau geschminkten Lippen öffnet, um pointiert, aber gleichgültig vom Raub eines Babys zu erzählen, zittert ihr Bauch unter dem kalt schimmernden Abendkleid. Aus Lust? Aus Angst? – Keine Antworten liefert die Inszenierung, keine gesellschaftlichen oder psychologischen Erklärungen für die alltägliche Gewalt. Sie ist einfach da, und sie war schon immer da.

Die mythologische Szene um die erste Gewalttat von Hermes stilisiert Gotscheff zum merkwürdigen Fremdkörper mit Masken aus Plexiglas, während Wolfgang Pregler in seinem Soloauftritt als moderner Hermes durch kühle Eleganz besticht. Sehr konzentriert und ruhig dirigiert Pregler mit Inbrunst den Rhythmus eines Alexandriners, eines Jambus' oder Trochäus'. Zwischen den Hymnen an die Schönheit der Versmaße erzählt er mit stoischem Gesichtsausdruck, wie er raubend, vergewaltigend und mordend durch die Städte zieht. Eine ähnliche Dichte erreicht auch die letzte Szene, in der Hermes einen siebenjährigen Jungen (Naomi Krauss) durch Telefonanrufe in den Tod treibt.

Trotz aller Emotionalität, die Naomi Krauss als das ewige Opfer verkörpert, bleibt der Eindruck einer Kühlhaus-Inszenierung. Kein Wunder, daß sich die schockgefrorenen Hände der Zuschauer erst langsam zum unterkühlten Schlußapplaus öffnen.

Karin Liebe