Das Abenteuer verläßt uns nicht

Von einem, der auszog, die Welt im Bus zu erkunden. Eine Betrachtung zu zwei Busreisen der unterschiedlichsten Art: Ganz entspannt nach Griechenland und Paris pauschal. Das Chaos lauert überall  ■ Von Immo Eulenberger

Sommer 1997, halb acht Uhr abends, Autobahnauffahrt Richtung Prag. Wir sind, wie immer, fünf Minuten zu spät. Der Bus wird doch nicht weg sein! Leute, die zum legendären „Rainbow“ nach Griechenland wollen, wo sich alles trifft, was mit dieser verhetzten Welt unzufrieden ist, die werden sich ja wohl nicht an läppischen fünf Minuten aufhalten! Schließlich fahren sie unter dem Slogan „Busreisen aus Idealismus“.

Der Bus ist nocht nicht weg, im Gegenteil. Unsere kleine Wartegemeinschaft vergrößert sich. Geteilte Sorge ist halbe Sorge. Und wir sorgen uns alle, denn es wird zehn, elf, zwölf Uhr. Was aber nicht kommt, ist unser Bus. Doch die, die da ausharren im Glauben, werden belohnt werden. Und siehe, die Erlösung naht, um halb zwei Uhr nachts, ein dreizackiger Stern auf 20jährigem Blech, dem der Prüfer und Retter entsteigt: Kerim, Fahrer und Eigentümer des Gefährts.

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Herbst 1997. Es ist schon bitterkalt in Leipzig. Hektik. Wir sind wieder mal spät dran. 0.55 Uhr sind wir am Bus, fünf Minuten vor dem Termin. Mit Lenka, meiner Liebsten, nach Paris! Mit ein paar Späßen begrüßen wir den Busfahrer. Er verzieht keine Miene und schaut an uns vorbei. „Wolf und eine Begleitperson? Koffer komm' hier rein.“ Ende der Durchsage. Auf die Sekunde genau setzt sich der Bus in Bewegung. Mit der lakonischen Bemerkung über Bordfunk: „Ja äh, es fehlen noch fünf Leute von der Liste... Wir fahr'n jetzt los. Nächster Stopp in...“ Das kann der doch nicht machen! Fünf Leute! Und nicht eine Minute gewartet! Die Mitreisenden sind anderer Meinung: „Na, da ham'se ee'm Pech gehabd, dor Zug warded ja ooch nich.“

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„Chaos-Busreise“ Richtung Griechenland. Wir sind zirka eineinhalb Stunden gefahren. Tschechische Grenze. Wie sich herausstellt, haben wir einen Bosnier an Bord, der mit uns nach Hause fahren möchte, dummerweise aber kein Visum hat, weder für Tschechien noch eines der anderen Länder, durch die wir kommen werden. Wir stehen anderthalb Stunden an der Grenze und debattieren, was zu tun ist. Viele haben sich resigniert in den Schlaf zurückgezogen, andere drohen auszusteigen, wenn wir die Schnapsidee wahrmachen sollten, nach Dresden zurückzufahren und vor dem Konsulat auf ein Visum für unseren kleinen Flüchtling zu warten. Kerim wartet geduldig und ohne Vorwurf. Nach zwei Stunden gibt der Bosnier auf. Wir lassen ihn auf einem Bahnhof zurück, mit zahlreichen Bekundungen des Bedauerns, aber erleichtert.

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Während der nächtlichen Fahrt nach Paris: Stoisch erträgt man 17 Stunden Fahrt, hält diszipliniert die kurz bemessenen Pinkelpausen ein und läßt sich von deutscher Schlagermusik berieseln. Ich höre so was eher selten und bin überrascht, daß es nicht nur das tausendfach variierte Herz-Schmerz- Gesäusel gibt, sondern auch soziale Dramen des Alltags besungen werden. Einmal entspannt und eingetaucht in diese Welt, die sonst ungerührt an mir vorbeigeht, bewegt sich auch etwas in meinem Herzen. Die Emotionen aus den Wellen dieser Bänkelsängerstimme schleichen sich in meinen Bauch...

Eine Stimme reißt mich aus den Gedanken. Es ist der Busfahrer, über Funk. Er bemüht sich um ein paar Worte zur französischen Kultur. „Also, wie man so sagt, andere Länder – andere äh... Mentalität! Das Frühstück ist in Frankreich nicht so wie in Deutschland. Es gibt höchstens einen kleinen Kaffee und ein Kroaßong, mit Schoko zum Beispiel oder Baguette. Mittags gibt's auch nicht viel, dafür ißt der Franzose abends warm, da haut er so richtig rein... Die Hotels, in die wir kommen, sind nicht schlecht, eigentlich recht sauber und so... mit deutschen Hotels zwar nicht zu vergleichen, aber immerhin... So, was ich unbedingt noch sagen muß, passen Sie auf der Straße auf, besonders auf die Handtaschen, da gibt's Leute... so schnell können Sie gar nicht gucken...“ Er hätte seine Meinung auch kürzer fassen können: „In Frankreich ist das Essen weniger, die Hotels sind schlechter, und man will Sie beklauen.“

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Erster Morgen der Griechenlandfahrt. Die Sonne geht auf und das Chaos im Inneren unseres fahrenden Tunnels nimmt Konturen an. Bündel und Rucksäcke, Kleidungsstücke aller Farben und Formen, Nahrungsmittel und Kleinkinder sind in undurchschaubarer Systematik überall verteilt. Auch im Reich der Düfte und Gerüche herrscht Konfusion. Neben dem Tabakrauch bestimmen ätherische Öle, Schweiß und Käsefüße, Räucherstäbchen und ein penetranter Uringestank aus dem Inneren des defekten Toilettenkabinchens die Szene. Ständig gibt es Kampf um die Musik („Wer darf als nächster seine Kassette einlegen?“). O Abenteuer, du verläßt uns nicht. Tausendundeine Panne: Die Polizisten in Österreich, die uns stoppen, weil einige von uns die Busfahrt schöner fanden mit dem Gesicht im Wind, dem Hintern auf dem Dach, den Beinen in der Luke (wir mußten dafür zahlen, aber das war es wert); die dalmatinische Küstenstraße mit den endlosen Serpentinen, den smaragdenen Oasen im öden Karst, den Autokadavern tief unten, den unzähligen Einschußlöchern in Bauernhäusern; die Gassen von Thessaloniki und Skopje

Rückfahrt: eine Fähre voller heimkehrender türkischer Gastarbeiter, die über Nacht mit Motorschaden auf dem Meer liegen bleibt, Ungewißheit, kleine Rebellion und Zwangsaufenthalt auf Korfu. Ankunft in Italien nach 36 statt 8 Stunden; eine Stunde Drogenkontrolle; eine Verhaftung wegen unerlaubten Badens im Hafenbecken von Monopoli(!) in Apulien, ständiges Halten wegen der Kranken – Durchfall und Erbrechen – die Sonne, das Essen, die Kurven; die Zeit läuft gegen uns, ich habe einen Termin in Leipzig, und wir sind zwei Tage im Verzug; doch trotz Schwächung der Nerven und der Gesundheit: ein gutes Ende, Kerim fährt uns bis vor die Haustür, drei Uhr nachts, sieben Stunden vor dem Termin. Ende gut, alles gut. Das wahre Abenteuer liegt anderswo.

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Paris: Alles läuft wie geplant. Wir erkunden die Stadt bei Nacht und kommen früh nie vor zehn aus dem Bett. Frühstück gibt's leider nur von halb acht bis halb zehn. Auf diese Weise bekommen wir unsere Mitreisenden nach der Ankunft nicht ein einziges Mal mehr zu Gesicht. Am letzten Abend wird es noch später als sonst. Die Metro fährt nicht mehr. Bei einer Freundin zu schlafen, ist kein Problem, aber morgen? Glücklicherweise hatten wir im Hotel eine schriftliche Anfrage hinterlassen, betreffs Ort und Zeit der Abfahrt. Unglücklicherweise konnte der Mann an der Rezeption des Hotels die Antwort nicht lesen – sie war auf deutsch geschrieben. Lenka beschwor ihn in eindringlichem Französisch, er solle sich Mühe geben, es sei wichtig, er werde doch wohl einen Ort in Kombination mit einer Uhrzeit erkennen können. Das half. 18 Uhr ab Hotel, war die Antwort. Ob er auch sicher sei? Ja. Wir gingen schlafen.

Am nächsten Tag um Viertel nach fünf sind wir im Hotel: um zu packen, zu duschen und nach Hause zu fahren. Die Rezeptionistin schaut uns an wie Geister. Der Bus sei heute früh gefahren, alle sind mit, außer uns. Im Mülleimer findet sich die Auskunft: Rückfahrt 18 Uhr Euro Disney. Wir schauen uns an. Meine Händen werden kalt. Euro Disney! Das sind 50 Kilometer! Wie sollen wir das schaffen? Nehmt ein Taxi, meint die Rezeptionistin. Das ist doch Wahnsinn, wer soll das bezahlen? Außerdem ist es auch damit nicht mehr zu schaffen. Ich muß an die Abfahrt in Leipzig denken und die fünf Unbekannten, und mir ist klar: Der Busfahrer wartet nicht. Die Rezeptionistin gibt nicht auf, sie will uns helfen. Sie ruft eine Agentin des Reisebüros in Paris an. Die rät zu Taxi. Ich nenne meine Argumente. Sie vermittelt ein Telefonat mit dem Busfahrer. Es ist wie ich erwartet habe: Obwohl sich die Abfahrt ohnehin 30 Minuten verzögert, will er auf uns keine Minute warten. „Wenn Sie denken, Sie müssen hier die ganze Zeit ihr eigenes Süppchen kochen, müssen Sie jetzt auch sehen, wie Sie klarkommen!“ Ach, das hat er uns also übelgenommen. „O.K., wir kommen schon klar. Gute Fahrt!“ So. Dann müssen wir wohl morgen nach Hause trampen. „Das geht doch nicht!“ ruft die Rezeptionistin. „Die können euch doch hier nicht stehenlassen! Sie beginnt mit Lenka eine erregte Diskussion über Mentalitäten und telefoniert nebenbei weiter. Telefonieren. Warten. Mehr als eine Stunde ist vergangen. Die Reiseagentin: „Fahren Sie los, der Busfahrer muß warten, ich habe mit Leipzig telefoniert.“ „Aber gute Frau, wir können ein Taxi gar nicht bezahlen!“ „Er wird es Ihnen auslegen.“ „Aber was soll denn das kosten? Und die Leute? Die werden total sauer auf uns sein, wenn sie jetzt noch eine Stunde warten.“ Jetzt ist die Frau auf mich sauer: „Da reißt man sich für Sie den Arsch auf...“ Ich lege auf. Jetzt reden Lenka und Sabine, die Rezeptionistin, auf mich ein. Wenn der Bus jetzt auf uns wartet, hätten wir gewonnen. Ich will aber gar nicht gewinnen, ich will endlich meine Ruhe. Als schließlich noch der Chef aus Leipzig persönlich anruft und mich bittet, wir sollten keinen Quatsch machen und schnell zum Bus fahren, sie hätten ja doch eine gewissen Verantwortung, das mit dem Geld würde zu Hause schon irgendwie geregelt, danke für ihr Verständnis ... da gebe ich auf.

Wir nehmen das nächste Taxi. Es braucht eine geschlagene Stunde, davon ein Viertel für das Gesuche rund um das riesige Gebäude. Als der Bus in Sichtweite kommt, rennt ein aufgeregter Deutscher auf das Auto zu, hängt sich an das Fenster und ruft Ungereimtheiten hinein, von denen wir nur verstehen, daß „sie“ seit zwei Stunden warten. Der Afrikaner versteht überhaupt nichts und ruft immerzu: „Ja! Ja! Ja!“ Das alles ist zu grotesk. Vor dem Bus steht der Block der Mitreisenden. Alles vibriert vor Aufregung. Am besten, einfach freundlich sein! Ich steige aus, lächle alle an und wünsche erst einmal „Bonsoir“. Grober Fehler. Mir schlägt ein vielstimmiges „Buuuuh“! entgegen. Einzelne schreien los, Stimmen überschlagen sich. „So eine Frechheit!“ „Jetzt lacht der auch noch!“ Ich versuche zu beschwichtigen: „Hören Sie, ich kann das erklären.“ Vergebens. Niemand will es hören. Das Desaster erreicht seinen Höhepunkt, als Lenka den Busfahrer bittet, das Taxi zu bezahlen. „Ich bezahle überhaupt nichts!“ „Aber man hat uns versichert, daß Sie das Geld vorschießen!“ Nichts. „Sie bekommen doch in Leipzig alles sofort wieder!“ Nichts. Jetzt verliert Lenka die Nerven. „Wissen Sie was, menschlich sind Sie ein Schwein!“ Mit einem Aufschrei werfen sich der Busfahrer und seine Frau auf meine Freundin, packen sie an den Armen und zerren sie aus dem Bus.

Die Türen gehen zu, der Bus fährt ab.