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■ AbgehörtDie Abstellkammer

Gerade entspannten sich nach dem Bremer Sechstagerennen die geplagten Ohren in der von unzähligen Taxis mit leisem Grummeln unterlegten Stille des Stadthallenvorplatzes, schon erhielten sie neue Nahrung: „Hallo, so trifft man sich“, begrüßt freudig ein gutsituierter Herr eine gutsituierte Dame in weichem Kaschmir.

Na und, werden Sie jetzt fragen, das ist doch banal. Stimmt, doch irgend etwas, vielleicht eine Vorahnung auf die dann folgenden, abgründigen Anmerkungen zur Soziologie des Alltags, hielt die Abhörantennen auf Habacht-Stellung. „Du bist jetzt umgezogen“, fuhr der Mann fort, „hast du eine schöne Wohnung erwischt?“„Das schon“, antwortet die Dame, „die Wohnung ist groß und hell. Doch was ich wirklich vermisse, ist eine Abstellkammer. Ich habe nur im Keller einen zusätzlichen Raum. Was mir fehlt, ist eine Abstellkammer in der Wohnung.“„Ach“, kontert der Mann, „wieviele Quadratmeter hast du denn?“„Vierundneunzig“, lautet die Antwort, die wie ein Giftpfeil in die neidgelben Ohren der zufälligen Mitläuferin dringt. „Na ja“, reagiert der Mann mit überlegenem Lächeln: „Ich habe ja nur neunzig Quadratmeter. Aber ich habe eine Abstellkammer.“

Neunzig, gar vierundneunzig Quadratmeter pro Person, und sich dann noch über eine fehlende Abstellkammer beklagen? Das ist wahrhaftig vermessen, denkt die Lauscherin. Aber in einem muß sie den ProtagonistInnen recht geben: Eine Abstellkammer braucht der Mensch. Der Wunsch nach einem Raum, in dem das Chaos sein darf, ja sogar sein muß, eint Arm und Reich. Bei genauer Betrachtung indes sind Wohlhabende wohl doch benachteiligter. Schließlich bedürfen sie der Kammer schon als Contrapunkt zur aufgeräumten Ästhetik weiter Tretfordebenen, in denen sie sich sonst verlieren könnten. Eine Abstellkammer bietet Maß und folglich Schutz.

Meine Wohnung hat zweiundvierzig Quadratmeter und ist eine Abstellkammer. Was mir fehlt, wäre ein Raum zum Flanieren, in Ruhe und Stille, ein großer Raum, an dem die Klagen der bourgeoisen Mittelschicht ausgedünnt verhallen. Doch gerade bevor sich dieser Gedanke festsetzen kann, vernehmen die Ohren erneut die schmeichelnde Kaschmirstimme: „Ich werde mich zurechtfinden müssen. Man kann eben nicht alles haben.“ dah

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