Niemals bei der Tour de France

Catriona LeMay-Doan aus Kanada gewinnt den Titel bei der Sprint-WM in Berlin, die radelnde Chris Witty aus den USA lehrt Franziska Schenk über 1.000 Meter das Fürchten  ■ Von Matti Lieske

Berlin (taz) – „O ja, das könnte sein“, sagt Chris Witty mit süffisantem Lächeln auf die Frage, ob ein beeindruckender Auftritt bei der Sprint-WM im Eisschnellaufen einen psychologischen Vorteil bei den Olympischen Spielen bringt. Die US-Amerikanerin hat gut reden, denn sie lieferte am Samstag in Berlin über 1.000 Meter ebendiesen Auftritt. Souverän schlug sie im direkten Duell die Titelverteidigerin und Olympia-Mitfavoritin Franziska Schenk auf deren Lieblingsstrecke und gewann das Rennen vor der Erfurterin Sabine Völker. Diese revanchierte sich gestern und ließ einem verpatzten ersten Tag mit dem Sieg über 1.000 Meter vor Witty einen versöhnlichen Abschluß folgen. Den Vierkampf-Titel holte sich die zur Zeit über 500 Meter als unschlagbar geltende Kanadierin Catriona LeMay-Doan vor Völker, Witty und Schenk.

„Witty hätte ich nicht so stark eingeschätzt“, staunte der deutsche Trainer Stephan Gneupel über die 1.000-m-Weltrekordlerin, die bei den letzten Weltcup-Rennen in Europa keinen großen Eindruck auf ihn gemacht hatte. „Ein bißchen überrascht“ sei sie selbst, mußte die US-Läuferin zugeben, die sich fast in Topform präsentierte, während Franziska Schenk am Samstag verkrampft wirkte und „ihre Stärke, das technisch saubere Laufen, nicht so zelebrieren konnte wie sonst“ (Gneupel). Zunächst stocksauer, schlüpfte die 23jährige, nachdem sich der innere Vulkan ein wenig beruhigt hatte, wieder in die Rolle der charmanten Gesprächspartnerin, die die Medien so lieben, und behauptete, daß sie sogar ganz froh sei über die glänzenden Auftritte der Konkurrenz, vor allem die von Teamkollegin Sabine Völker. So verteile sich wenigstens der Favoritendruck. „Ich habe gemerkt, daß ich damit noch nicht so umgehen kann“, sagte Franziska Schenk leicht kleinlaut.

„Ich glaube, ich bin eine ziemlich lockere Person, ich weiß, wie ich mich entspannen kann, wenn ein großes Rennen ansteht“, ließ Chris Witty dagegen erkennen, daß sie mit Druck und hohen Erwartungen keine Probleme hat. In den USA wird die 22jährige Sprint-Weltmeisterin von 1996, der die Umstellung auf den Klappschlittschuh so gut gelang, daß sie ihre 1.000-m-Bestzeit in diesem Jahr um drei Sekunden steigern konnte, als Nachfolgerin der zurückgetretenen Bonnie Blair gefeiert. Witty ist von dem Vergleich mit der Legende, die bei drei Winterspielen fünfmal Gold gewann, keineswegs begeistert: „Immer höre ich ihren Namen vor meinem. Das ist nicht fair. Dies ist mein Moment, nicht ihrer.“ Bestens umgehen kann sie mit dem Interesse der Medien, die selbst relativ intime Bereiche ihrer Persönlichkeit erforschen. So wird zum Beispiel berichtet, daß sie einen Bauchnabelring trägt, eine Tätowierung an der linken Hüfte besitzt und gern stundenlang MTV schaut, von Bob Marley bis Prodigy.

Liebend gern würde Chris Witty etwas schaffen, was bisher nur einem Menschen gelang: eine Goldmedaille bei Sommer- und bei Winterspielen zu holen, so wie Eddie Eagan aus den USA, der 1920 als Boxer und 1932 als Bobfahrer siegte. Näher liegt das Beispiel von Christa Rothenburger aus der DDR, die 1988 in Calgary Eisschnellauf-Gold und im selben Jahr in Seoul Silber im Radfahren gewann. „Ich will es auf jeden Fall probieren“, sagt Witty, die 1996 in Atlanta als Ersatzfrau im US-Radteam stand, „es ist ja leichter geworden, weil zwischen Winter- und Sommerspielen jetzt zwei Jahre liegen.“

Angefangen hat die Sportlerin aus West Allis, Wisconsin, mit dem Eisschnellaufen, das Radfahren betrieb sie zunächst nur zu Trainingszwecken. Inzwischen ist es jedoch zur Leidenschaft geworden: „Hier in Berlin war ich beim Sechstagerennen und gleich ganz aufgeregt.“ Vorziehen mag sie aber keine der beiden Sportarten: „Beim Eisschnellaufen hat man die Grazie, beim Radfahren die Action.“ Gedanken an eine Karriere wie die von Eric Heiden, dem fünffachen Eisschnellauf-Olympiasieger von Lake Placid 1980, der später sogar die Tour de France und den Giro d'Italia bestritt, weist sie allerdings von sich: „Ihr werdet mich nie bei der Tour de France mit all den Bergen oder überhaupt auf der Straße sehen. Für mich kommt nur die Bahn in Frage.“ Nach Nagano will Witty mit der Vorbereitung für Sydney 2000 beginnen und sich vor allem technisch verbessern. „Die Kondition habe ich ja schon vom Eislauftraining, aber im Gegensatz zu den anderen Mädchen weiß ich nicht, wie ich um die Bahn herumkomme. Die kennen alle Tricks, ich trete nur.“

Zunächst einmal zählen aber die Winterspiele, und dort ist für sie vor allem die 1.000-m-Strecke wichtig, obwohl sie auch über 500 und 1.500 Meter startet. Chris Witty ist sicher, daß selbst eine so starke Leistung wie bei der Sprint-WM nicht zum Olympia- Gold reichen wird: „In Nagano wird es schneller.“ Das meint auch Kanadas Coach Robert Trembley: „Dies ist nicht der Höhepunkt für die Läuferinnen“, sagte er in Berlin, „aber es ist wichtig, gut abzuschneiden, damit man daran glaubt, daß man in Nagano gewinnen kann.“ Seit gestern steht es in dieser Hinsicht wieder unentschieden zwischen Franziska Schenk und Chris Witty.