Befremdliche Ewigkeit dauert acht Sekunden

■ Skifliegen ist wie mit einem Regenschirm vom Kirchturm springen: Bei der WM in Oberstdorf muß Andreas Goldberger zwar seinen Titel abgeben – weiß aber dafür das Publikum wieder an seiner Seite

Oberstdorf (taz) – Wer in den Archiven der Allgäuer Zeitung stöbert, kann die Oberstdorfer Springerpioniere der fünfziger Jahre betrachten. Vor der frisch in den Bergwald des Stillachtals gefrästen Schneise, mit der vagen Silhouette des Schanzenturms. Sepp Weiler, Toni Brutscher, Max Bolkart und Heini Klopfer. Für heutige Begriffe eine Idee zu fesch gescheitelt, die Ärmel aufgekrempelt und energisch die Hände in die Taschen ihr Krachledernen gestopft. Männer wie aus einem Guß.

Und: „Hund sind's scho“, sagten die Einheimischen damals anerkennend über die Skispringer vom SC Oberstdorf. Einerseits wegen ihrer markigen Erscheinung, andererseits wegen ihres, auch für den Normalallgäuer, an Irrsinn grenzenden Mutes. Wenn sie sich Winter für Winter über die 1950 gebaute Schattenberg-Schanze katapultierten; den Kopf zwischen die gereckten Arme geklemmt, mit im Wind knatternden Hosen.

48 Jahre später heißt die Schanze nach ihrem Erbauer Heini Klopfer, und wenn die Skiflieger ihre WM ausfliegen, knattert nichts mehr. Die Adler von heute sind in orangene Kunststoffanzüge eingeschweißt, deren Luftwiderstand gegen null geht. Trotzdem ist die Luft, dieses zumindest optische Nichts, der wichtigste Partner, wenn die Skier erst einmal den sicheren Boden der Anlaufspur verlassen haben. Wenn die Peterka und Hannawald und Funaki mit über 100 Kilometer Geschwindigkeit ins Nichts starten. Vom höchsten Anlaufpunkt bis zum autobahnbreiten Auslauf sind es genau 207 Meter Höhenunterschied.

„Harakiri“, sagte ein Zuschauer aus dem Hessischen, die Ankündigung eines japanischen Springers launig umdeutend. Womit er unfreiwillig gar nicht so unrecht hatte. Zumindest auf die im Tal ihren Glühwein schlürfenden Skiflug- Fans wirkt diese Sportart bei nüchterner Betrachtung wie eine befremdliche Suizidvariante. Eigentlich ist das wie mit einem Regenschirm vom Kirchturm springen. Eigentlich. Die Energie der Anlaufgeschwindigkeit läßt die Luft zur stabilen Materie werden.

Womit wir einerseits bei Einstein angelangt wären, andererseits bei der Qualität begabter Flieger, den Äther wie eine komfortable Matratze zu nutzen, um auf ihr mit weit ausgefahrenen Tentakeln zu Tal zu gleiten. Und doch: Skifliegen ist etwas völliges anderes. Zum Beispiel kann man es nicht trainieren. Weil die Skiflugschanzen wegen der hohen Kosten nur zu besonderen Anlässen präpariert werden. Was bedeutet, daß sich die Athleten von einem Tag auf den anderen von einem Tourenwagen auf die Formel 1 umstellen. Von 120 Meter auf über 200 Meter. Das heißt für den Springer, doppelt so lange in der Luft zu sein. Und damit eine um hundert Prozent erhöhte Konzentrations- und Kontrollphase. Bis zu acht Sekunden lang. Absolut gesehen nicht sehr lange – für schlechte bzw. unsichere Flieger eine Ewigkeit. Jedenfalls genügend Zeit, um eine Menge Fehler zu machen.

Von denen „jeder noch so kleine Haltungsfehler zum Absturz führen kann“, lehrte Rudi Tusch, der technische Leiter des DSV, seine Zuhörer das Gruseln. Für das – wir erinnern uns – Oberstdorfer Urgestein Max Bolkart ist das alles dennoch recht harmlos. „Damals war das viel gefährlicher, denn die Flughöhe betrug zwischen 12 und 15 Meter. Heute sind die Springer maximal 3 Meter vom Boden weg.“ Bolkart, Gewinner der Vierschanzen-Tournee von 1960, hat leicht reden. Er durfte während des WM-Wochenendes als letzter Überlebender der Oberstdorfer Legenden ein holpriges Trompetensolo ins Mikrofon blasen und die alten Geschichten erzählen.

Die heutigen Heroen der Lüfte durften weder das eine noch das andere, sondern mußten den fast 40.000 Zuschauern zeigen, was sie können. Der krisengeschüttelte österreichische Titelverteidiger Andreas Goldberger zum Beispiel. Machte sich beliebt. Vermutlich wegen der von ihm verkörperten Melange aus Pausbäckigkeit und Kokainexzeß und wegen der Antwort, die er auf die Frage des Stadionsprechers: „Lag's am Rückenwind?“ parat hatte. „An der Weite lag's“, sprach Goldi – und hatte so zwar den Titel verloren, aber dafür das Publikum wieder auf seiner Seite. Albert Hefele