Behütetes Staatsverständnis

■ „Der Fez“ beschreibt gelungene und mißglückte Versuche, die divergierenden Tendenzen der Türkei unter einen Hut zu bringen

Seit Jahrhunderten zieht es die Türken Richtung Westen. 1529 und 1683 klopften sie, einst aus den Steppen Zentralasiens aufgebrochen, an die Tore Wiens und fragten: „Dürfen wir zu euch?“ Sie wurden abgewiesen. Über 300 Jahren später belagern sie erneut Europa. Nicht mit Armeen, sondern mit Lobbyisten und Diplomaten, die in Brüssel und andernorts auf die Aufnahme in den europäischen Club drängen. Vergebens. Alle Bemühungen haben bis heute nicht gefruchtet. Die Türkei bleibt in ihrer Sonderstellung gefangen, gehört nicht zum Osten und nicht zum Westen.

Wo soviel Unklarheit über den eigenen Standort herrscht, soll über Symbole Eindeutigkeit hergestellt werden. In der Türkei gilt seit Jahrhunderten: Ich sage dir, was du auf dem Kopf zu tragen hast, damit du weißt, wer und was du zu sein hast. Die Kopfbedeckung ist nicht freier Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, sondern signalisiert kulturelle und politische Loyalitäten. Veränderungen der Art und Weise, sein Haupt zu verhüllen, kündigen gesellschaftliche Umbrüche an. Zum Beispiel 1989, als StudentInnen das Verbot islamischer Kopfbekleidungen an Schulen und Universitäten ignorierten, ihr Selbstbestimmungsrecht einklagten und mit der „Turbanaffäre“ klarstellten: Die Religiös-Konservativen haben etwas an gesellschaftlicher Macht zurückgewonnen.

Wo sich offensichtlich alles um den Kopf und seine richtige Bedeckung dreht, ist es naheliegend, die Geschichte eines Volkes aus dem Hut zu zaubern. Dieses Kunststück gelingt Jeremy Seal in „Der Fez. Eine Reise durch die Türkei auf der Suche nach einem Hut“. Auf der Suche nach dem Ursprung und Verbleib des Fez, die ihn kreuz und quer durch das Land und an zahlreiche historische Schauplätze führt, entwirft Seal eine anekdoten- und faktenreiche sowie sehr persönliche Geschichte der modernen Türkei.

Der studentische Protest für die islamisch korrekte Kopfbedeckung, 75 Jahre nach Gründung der säkularen Republik, ist für Seal keineswegs anachronistisch. Er ist auch eine Demonstration gegen Demütigungen, die ihre Urgroßeltern einst durch den Republikgründer erfahren haben. 1925 verbannte Mustafa Kemal Atatürk den Fez. Der rote Halbkegel aus Filz mit seiner schwarzen Quaste repräsentierte für den passionierten Rakitrinker eine religiöse Rückständigkeit, die ihn bei seinem Marsch gen Westen bremste. Wer sich seinem Diktat widersetzte, sein Haupt statt mit Melone, Panamahut oder anderen aus dem Westen importierten Hüten weiterhin mit einem Fez bedeckte, wurde im Glücksfall zu langjährigen Haftstrafen und Zwangsarbeit, häufig jedoch zum Tod durch den Strang verurteilt.

In der Beschränkung der freien Wahl der Kopfbedeckung wird das Dilemma der türkischen Republik deutlich. Nicht der Kampf um die Köpfe und die so entstehende Loyalität sind das Fundament der Republik, sondern die Verordnung der richtigen Haupteszierde. Der Weg der Türkei Richtung Westen wird so zu einem Gewaltmarsch, der auf Traditionen und Wünsche der heterogenen Bevölkerungsgruppen wenig Rücksicht nimmt.

Bereits 1826 wurde den Türken die Westorientierung verordnet. Sultan Mahmud II., der gleichzeitig als Kalif das religiöse Oberhaupt aller Muslime war, hielt wenig vom Islam und noch weniger von den Arabern. Von seiner Mutter, einer französischen Kreolin, kulturell geprägt, orientierte er sich am französischen Lebensstil, hätte sein Reich gerne ein wenig europäischer gehabt. Aber im Gegensatz zu Atatürk wußte er angesichts seiner tiefreligiösen Untertanen um die Grenzen aufgezwungener Reformen. Zumindest gelang es ihm, den bis dahin vorherrschenden und für ihn zu „arabischen“ Turban abzuschaffen und seinen Untertanen den Fez schmackhaft zu machen. Der Fez stellte einen Kompromiß da: Er war nicht mehr so orientalisch wie der Turban, näherte sich in Form europäischen Kopfbedeckungen an und wurde nach heftigen Kontroversen auch von der islamischen Geistlichkeit akzeptiert, da Mahmud II. auf eine Hutkrempe und ein Schild verzichtete, und die neuartige Kopfbedeckung die Muslime während ihres Gebetes nicht daran hinderte, mit dem Kopf den Boden zu berühren.

Aber der Fez war mehr als die Marotte eines mit Paris sympathisierenden Sultans. Er war das Symbol eines Ideals patriarchal-kosmopolitischer Haltung. Als Mahmud II. den Fez verordnete, verkündete er: „Fortan nehme ich Muslime nur in der Moschee war, Christen nur in der Kirche, Juden nur in der Synagoge. Außerhalb dieser Stätten des Gottesdienstes wünsche ich, daß jedes Individuum dieselben Rechte und meinen väterlichen Schutz genießt.“ Für Seal gewinnt der Fez, unabhängig davon, ob die Generationen ihn als Zeichen der Verwestlichung, des orthodoxen Islams oder der Loyalität zum osmanischen Reiches sahen, eine tieferreichende Bedeutung. Dies, so Seal, war im Gegensatz zu der Assimilierungs- und Vernichtungspolitik der Jungtürken in den Jahren nach 1915 und der Politik Atatürks mit der Unterdrückung der Kurden und der Vertreibung der griechischen Türken nach 1923 der Weg voran: „... daß weder der Westen noch der Osten siegte, sondern daß die beiden Welten zusammen existierten und ihre zueinander im Widerspruch stehenden Ideologien nicht länger auf dem Trümmerfeld der Autobomben und Verhaftungen, Sprachgesetze und ausgebrannten Hotels zusammenprallten.“ Ob der Weg der Türkei gen Westen gelingen kann und wird, diese Frage läßt Jeremy Seal offen. Eberhard Seidel-Pielen

Jeremy Seal: „Der Fez. Eine Reise durch die Türkei auf der Suche nach einem Hut“. Klett-Cotta, 347 Seiten, 38 DM