Die Scheinheiligen fürchten das Leben

■ Der Streit um die Scheinvergabe bei der Schwangerenberatung offenbart einen kircheninternen Kampf um das Verhältnis zum Staat. Die Bischöfe setzen mit ihrer Erklärung den Abtreibungsparagraphen erneut

Am Ende seines Statements kam Karl Lehmann gestern zur Sache: „Die jetzige Auseinandersetzung um den rechten Weg ist ein Zeichen unserer Stärke, nicht unserer Schwäche.“ Die Frage der katholischen Beratungsstellen im staatlichen System sei ein Streit, den „wir uns im Namen Gottes leisten können und müssen“. Die Auseinandersetzung ist nicht so sehr der Streit unter den deutschen Bischöfen oder etwa ein Dissens mit Rom. Der Gegenpart in diesem Kampf ist der deutsche Staat und der von ihm mühsam ausgehandelte Kompromiß in Sachen Abtreibung.

Denn was die Kirche fordert, kommt einer Erpressung gleich: Entweder sie zieht sich aus den Beratungen zurück, die per Schein den Abbruch ermöglichen, und bringt damit vor allem die katholischen Gegenden in Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein- Westfalen in Bedrängnis. Oder aber der Staat ändert die Beratungsregeln in der Weise, daß dieser Schein nicht mehr nötig ist. Offiziell erklärt die Bischofskonferenz, sie „bitte auch die Politikerinnen und Politiker, nach Wegen zu suchen“, den Verbleib der Kirche in der Beratung unter diesen Bedingungen zu ermöglichen. Und sie zitiert das Bundesverfassungsgericht: Der Gesetzgeber sei „bei nicht hinreichendem Schutz vor Abtreibungen verpflichtet, durch Änderung und Ergänzung der Vorschriften auf die Beseitigung der Mängel hinzuwirken“.

„Der Ball liegt jetzt bei der Politik“, bestätigt Theodor Bolzenius, Pressesprecher des Laiengremiums Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). Auf der politischen Ebene müsse nun geklärt werden, wieweit der von der Kirche ohnehin immer ungeliebte Kompromiß „so verändert wird, damit die Kirche dabeibleibt“. Dabei spielen die Bischöfe gleich doppelt auf Zeit: Einerseits wollen sie mit der Bildung einer Arbeitsgruppe das vor allem für die C-Parteien brisante Thema aus dem Wahlkampf im diesem Jahr heraushalten. Andererseits könnte im Frühjahr 1999, wenn die Entscheidung erwartet wird, in Rom bereits ein anderer Papst residieren.

Die Kirche liefert auch gleich eigene Vorstellungen für eine neue Diskussion um die Genehmigung der Abtreibung mit: Statt des jetzt gültigen Scheins könne es auch „einen Beraterbrief, eine Art eidesstattliche Erklärung oder eine Rückfrage des abtreibenden Arztes“ geben, verkündete Lehmann.

Wie der Teufel das Weihwasser fürchtet die Kirche die Unterschrift eines Kirchenvertreters unter dem Schein, der die „Tötung eines Kindes“ legalisiert. An der Praxis der Beratungen und der Abtreibungen, so die innerkirchliche Kritik, ändert das zwar nichts. Doch die offizielle Kirche kann ihre Hände in Unschuld waschen und sich auf eine moralisch eindeutige Position zurückziehen.

Das ist die Strategie der Erzkonservativen unter den Kirchenmännern: weg von einer pragmatischen Einmischung in gesellschaftliche Konflikte der sündigen Alltagswelt, wie sie das Zweite Vatikanische Konzil in den sechziger Jahren als „Öffnung zur Gesellschaft“ verstanden hat. Diese erzkonservative Strömung, deren deutlichste deutsche Exponenten die Kardinäle Johannes Dyba von Fulda und Joachim Meisner von Köln sind, finden im Vatikan große Unterstützung. Von dort wird die Konzentration auf die konservativen Werte und die eigene Anhängerschaft gepredigt. Aktuell heißt das: keine Abtreibungsberatung, keine Ausbildung von Theologen an den staatlichen Universitäten, dafür aber Präsenz bei den Sozialdiensten und beim Militär. Die konservative Seite sieht den Brief aus Rom als Bestätigung der eigenen Position.

„Es hätte noch viel schlimmer kommen können“, ist dagegen die Meinung bei den „Progressiven“. In ersten Entwürfen sei gar vom Kirchenausschluß aller an einer Abtreibung beteiligten Menschen die Rede gewesen. Sie werten den Brief vor allem als Bestätigung der kirchlichen Beratungstätigkeit. „In der Gesellschaft muß man sich eben auch manchmal die Finger schmutzig machen“, meint ZdK- Sprecher Bolzenius und beklagt den „Purismus“ der anderen Seite.

Laien und gemäßigte Bischöfe verteidigen die traditionell enge Verbindung von Staat und Kirche in einem Land, in dem sich etwa jeweils ein Drittel der Menschen den beiden christlichen Kirchen zurechnen. Das zeigt sich in den Einnahmen aus der Kirchensteuer von rund acht Milliarden im Jahr, die der Staat für die Kirchen eintreibt, oder auch in der Bereitstellung von katholischen Diensten in Kitas, Krankenhäusern und Altenheimen, die die kirchlichen Sozialdienste zu den größten Arbeitgebern der Republik machen. Und die Vertreter der „offenen Kirche“ verteidigen natürlich ihren gesellschaftlichen Einfluß auf Parteien und Verbände, der sich gerade gestern gezeigt hat: die Macht, trotz allgemeinen politischen Unwillens das Thema Abtreibung auf die politische Tagesordnung zu setzen. Bernhard Pötter