Die Entdeckung der Schlurfigkeit

■ Nikki Sudden: Ein Indie-Veteran aus früheren, ach was, aus schöneren Tagen im Tower

Auf dem Ankündigungsplakat stand ein häßliches langes Wort: Rock –n– roll-Tour. Und tatsächlich weckten die ersten zwei Stücke von Nikki Sudden & Band die Hüpfbereitschaft. Auch Du, Judas? Aber dann zog Ruhe in den Tower ein. Die Songs wurden länger und langsamer, mehr noch, verschlurfter, verträumter, bekiffter (obwohl nachweislich eher Rotwein und verdächtig durchsichtige Drinks im Spiel waren). Die Zwischenpassagen – das, wo sich nichts tut – dehnten sich aus. Am Ende, gegen Mitternacht, war der Archetyp der Folkmusik in kristallklarer Reinheit endlich erreicht: Der Mann und die Gitarre, noch immer die schönste Variation von Hemingways altem Mann mit seinem Meer.

Eigentlich fing ja alles schon damit an! Vor Nikki Sudden durfte sich nämlich sein Gitarrist auf der Bühne einsam verlieren. In wunderbar ökonomischem Schulenglisch für absolut beginners klagte er „she don't love you anymore“. „Sonner or later there is a price you have to pay.“„And you wright your book of lies.“Es gibt Wahrheiten, die verstecken sich unter einer so dicken Kruste von Kitsch, daß nur grandiose Musik sie hörbar machen kann. Oder: Je genialer die Musik, desto grauenhafter darf der Text sein, ohne daß man aufhören würde, ihn zu lieben. Diese Musik dieses Gitarristen war genial. Vor allem genial einfach. Ganze Strophen schaukelten zwischen zwei Akkorden wie ein Schiff auf endloser See. Und diese Akkorde lagen so effizient, daß jede sportliche Betätigung der Griffhand unterbleiben konnte. No sports, echter Churchill.

So genügte die einfältig-regelmäßige Umsiedlung zweier Finger vollauf für die rührendste Musik. Ein Wunder? Und die Lichtanlage des Towers pendelte träge und unentschlossen im Schneckentempo von links nach rechts. Hatte auch sie angefangen sich Gedanken zu machen über das Leben und überhaupt?

Und da! Eine Verwandlung tritt ein: Das schräg-lustig-ironische Faschingsglitterzeug hinter der Bühne mutiert plötzlich zu einer süßmelancholischen Allegorie auf die Unmöglichkeit von Ausgelassenheit, Unbeschwertheit, Glück. „Schade, daß so wenig Schüler hier sind“, meint taz-Fotograf Nikolai. „Warum?“„Die werden nur noch mit Gute-Laune-Knallern gefüttert und kennen das gar nicht mehr: Musik mit Gefühl.“

Für viele Indie-Fans war Nikki Sudden (vielleicht zusammen mit Dave Kusworth und Julian Cope) Anfang der 80er ein dickes Aha. Irgendwie hatte es sich damals in vielen Kreisen eingebürgert, Intensität nur im Schrägen zu suchen, irgendwo zwischen Sonic Youth, Hüsker Du, Pixies, Brian Eno. Und dann kam Nikki Sudden. Volksmusik. Erstes Einüben in die Einfachheit.

So kann man Nikki Sudden und seine Ex-Band, die Jacobites, als Väter des Neofolks bezeichnen, all der sentimentalen Gemüter des Okra-Labels oder von SubPop: Schramms, Palace Brothers, Fellow Travellers, Souled America, Cordelia's Dad. Zumindest kann man über diese Genealogie streiten.

Aber warum interessieren sich für den Helden früher Jahre nur 40 Leute? Sind wir altmodisch? – Ach ja, richtig, das gehört sich so bei Leuten, die konsequent am Angesagten vorbeischrubben. Muß positiv sein. Oder? Barbara Kern