Schlanker Staat mit vielen Versprechen für alle

■ Bill Clintons Rede zur Lage der Nation formulierte ein postsozialdemokratisches Regierungsprogramm für die Vereinigten Staaten – und versucht es allen recht zu machen

Washington (taz) – Das scheint das Geheimnis von Clintons Regierungserklärung und überhaupt sein Erfolgsrezept zu sein: Er hat für jeden etwas, und was er anbietet, berührt die Menschen unmittelbar. Den Studenten verspricht er günstigere Studiendarlehen, den schlechter Bezahlten eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns, den Eltern Hilfe bei der Kinderunterbringung, den Unversicherten leichteren Zugang zu einer Krankenversicherung.

Kein Wort über den Skandal, in den er verwickelt ist. Clintons State-of-the-Union-Rede sollte ganz staatsmännisch sein und seine privaten Sorgen nicht berühren. Doch es besteht eine eigentümliche Nähe zum Privaten. Der Präsident spricht über Diabetes und Alzheimer, über Kindergärten und Klassenfrequenzen, über Zensuren und Versetzungen.

Man hat darüber gewitzelt, daß Clinton seine letzte Wahl mit Hilfe der Mütter gewonnen hat, auf deren Sorgen er eingegangen ist – fehlende Kindergartenplätze, schlechte Schulen, rauchende Kinder. In einem Land, in dem 70 Prozent der Mütter arbeiten und zehn Millionen Kinder unter fünf Jahren berufstätige Mütter haben, in dem fünf Millionen Kinder nachmittags allein zu Hause sind und manche Familie ein Viertel ihres Einkommens für Kinderunterbringung ausgibt, hat das Angebot, Bundesmittel für bessere Kinderbetreuung bereitzustellen, einen mächtigen Appeal.

Die Republikaner werden daraus eine ideologische Debatte machen: Es sei besser, die Mütter blieben zu Hause bei ihren Kindern, und Steuererleichterungen für arbeitende Familien sollen ihnen das ermöglichen. Die Frauen im Lande werden dankbar sein, daß ihre Probleme und ihre Doppelbelastung überhaupt auf der politischen Tagesordnung stehen – und sie wissen, wem sie das zu verdanken haben.

Clinton konnte erstmals seit fast dreißig Jahren einen ausgeglichenen Haushalt ankündigen. „War das Haushaltsdefizit ehemals mit 11 Nullen beziffert, wird es im Jahre 1999 schlicht null sein.“ Diese Rechnung beruht allerdings auf einem Taschenspielertrick, denn auf der Einnahmeseite verbucht die Regierung die Überschüsse, die derzeit noch die Rentenkasse einnimmt.

Gleichwohl entbrannte schon im Vorfeld der Regierungserklärung der Streit darüber, was mit den Überschüssen geschehen könnte. Die sozialdemokratische Fraktion von Clintons Demokratischer Partei würde am liebsten neue Sozialprogramme auflegen, die Republikaner würden die Überschüsse am liebsten den Wählern als Steuererleichterungen zurückgeben – womit den USA der alte Streit zwischen Sozialpolitik auf der einen und Staatsabbau auf der anderen Seite bevorstände.

Clinton landete einen Geniestreich, als er versprach, jeden Pfennig, der übrigbleibt, in die Sanierung der Rentenkasse zu stecken. Das ist nicht nur populär, das setzt die rechten und linken Flügel im Kongreß schachmatt.

Wovon aber zahlt Clinton dann all die „goodies“, die er auszugeben versprach? Nach überschlägiger Rechnung kosten sie etwa 50 Milliarden Dollar. Der Antiraucher-Präsident hat eine neue Staatsschatulle aufgetan, den Deal mit der Tabakindustrie – 300 Milliarden Dollar gegen Immunität vor weiteren Schadenersatzklagen. Kein Wunder, daß die Republikaner sich über dessen Verabschiedung skeptisch äußern. Was bleibt ihnen übrig, wenn sie dem Präsidenten die Schau stehlen wollen.

Zwischen denen, die wie Reagan die Regierung für das Problem halten, und jenen, die wie Roosevelt und Johnson in Regierungsprogrammen die Lösung von Problemen sehen, will Clinton den von ihm gepriesenen dritten Weg gehen. „Amerika hat heute eine kleinere, aber progressivere Regierung als jemals zuvor.“ Schlanker Staat und progressive Regierung, das ist einfach brillant. Peter Tautfest