Vergiß die Welt da draußen !

■ Unvorstellbare Dinge: die revolutionäre und befreiende Pop-Musik von Portishead live in der Großen Freiheit

Beth Gibbons sieht aus wie zerknittertes Pergament-Papier, und wenn dieses dünne Persönchen in Fahrt kommt, hast du immer ein bißchen Angst, sie könnte von der Wucht der eigenen Vokalakrobatik weggepustet werden. Denn die Engländerin – das wußten wir schon immer – ist eine der größten Sängerinnen unserer Zeit. Und – das ist neu – eine wunderbare Performerin. Vor dem Mikro wiegt und biegt sich die Frau analog zu den Bewegungen ihrer Stimme, mit der sie am Mittwoch in der schon lange ausverkauften Großen Freiheit unvorstellbare Dinge zustande bringt.

Wie bei allen großen Blues-Künstlerinnen funktioniert ihr Gesang als sensuelles Register, das sich abrufen läßt, ohne dem Verlangen nach Authentizität und Feeling nachgeben zu müssen. Auch wenn Beth Gibbons in die ehrfürchtige Stille des Konzertsaals waidwund wimmert: „Nobody loves me.“Lassen wir uns nicht täuschen, solche Phrasen dienen der experimentierfreudigen Chanteuse nur dafür, um zu noch nie gehörten Modulationen zu gelangen. Ihre Stimme ragt ins Monströse.

Und ihre Songs haben mit der Welt, wie wir sie kennen, nichts zu tun. Portishead steht der Sinn nach Höherem. More Blues And The Abstract Truth – Titel, die in den Sechzigern den Aufbruch im Jazz verkündeten, lassen sich auch für diese Popmusik der Neunziger anwenden. Das ewig leidende Individuum spielt hier keine Rolle mehr. Weil es sich längst eine bessere Welt geschaffen hat. In der Kunst. Auf dem aktuellen Album sampelt das Ensemble sich seine Stücke aus Material zusammen, das es selbst eingespielt hat. Referenzen zu irgendetwas, was außerhalb ihres Kosmos' liegt, gibt es nicht. Portishead, die sich nach ihrem Heimatkaff benannt haben, sind eine hermetisch abgeschlossene Angelegenheit.

Live wird das Unternehmen wieder in den Bandzustand zurückgeführt. Während Geoff Barrow, die zweite zentrale Figur, die Turntables bedient und klaustrophobisch verwinkelte Streicher oder psychotisch schlierende Bläser abruft, wieseln die Kollegen zwischen Bass und Drums hin und her, lassen einige Songs, die ansonsten in kontemplativer Stille verharren, in Richtung Rock ausbrechen. Und irgendwann – das Riff aus „Seven Months“hallt gerade martialisch verzerrt – schmeißt die zurückhaltende Beth Gibbons ihren dürren Körper nach vorne. Ausbrüche einer Künstlerin, die ansonsten sagt: Vergiß' die Welt da draußen! Christian Buß