Kurze Atempause für Präsident Clinton

Bill Clinton tourt durch den Mittelwesten – die Ermittlungen gegen ihn laufen derweil in Washington weiter  ■ Aus Washington Peter Tautfest

Die Aufnahme des Berichts zur Lage der Nation scheint Bill Clinton eine Atempause verschafft zu haben. Am Tag nach seinem Auftritt im Kongreß brachen der Präsident und sein Vize zu einer schon vor dem Skandal geplanten Reise in das Herzland der USA, den Mittleren Westen, auf.

In Champaign, Illinois, sprach Clinton vor 20.000 Studenten, und in LaCrosse, Wisconsin, warteten 12.000 Menschen fünf Stunden lang im Schneeregen auf den Präsidenten – in Illinois war sein Flugzeug im Schlamm steckengeblieben, und es dauerte eine Weile, bis eine Ersatzmaschine eintraf. Derlei Reisen haben symbolische Bedeutung. Auch am Tag nach seiner Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten 1992 hatten sich Bill Clinton und Al Gore in einen Bus gesetzt und waren durch den Mittleren Westen gefahren – eine Wahlkampfreise, die später als entscheidend angesehen wurde.

Vor den Studenten sprach Clinton über seine Pläne, mehr zinsgünstige Darlehen für Collegeausbildung zugänglich zu machen, und über seine Pläne, die Rentenversicherung zu reformieren, beide Themen berühren Jugendliche existentiell. Welcher junge Mensch will schon in die Rentenversicherung einzahlen, wenn das System später nicht Erwartungen erfüllt?

Auch in den Talkshows schien gestern eine Akzentverschiebung eingetreten zu sein. Sie als pensionierte Lehrerin empfinde es als Genugtuung, einen Präsidenten mal über Klassenfrequenzen reden zu hören, meldete sich eine Anruferin aus New Jersey bei „Talk of the Nation“. Und wann habe sich das letzte Mal ein Präsident für Kinderbetreuung interessiert? In vielen Frühstückskneipen und an Biertresen der Nation war mehr von den Programmen des Präsidenten als von seinen Skandalen die Rede.

Clintons Probleme sind damit gleichwohl nicht gelöst. Unter den Zuhörern in LaCrosse und Champaign hielten sich der Wunsch nach einer Rückkehr zur Tagesordnung mit dem nach Aufklärung der Vorwürfe die Waage.

Derweil mahlen die Mühlen der Sonderermittlung weiter. Inzwischen wurde bekannt, daß Monica Lewinsky am 28. Dezember, elf Tage nachdem sie eine Vorladung durch die Anwälte von Paula Jones bekommen hatte, im Weißen Haus war. Bei dieser Gelegenheit soll Clinton ihr zu der Aussage geraten haben, ihre Besuche im Weißen Haus hätten seiner Sekretärin gegolten, berichtet die New York Times unter Berufung auf Bekannte Lewinskys.

Aus Oregon, wo Monica Lewinsky studierte, meldete sich einer ihrer ehemaligen Lehrer und behauptete, ein Verhältnis zu ihr gehabt zu haben. Klassenkameradinnen und Schulfreunde meldeten sich, die bekunden wollen, daß Monica schon als Teenager Verhältnisse zu älteren Männern gehabt habe, unter anderem zu jenem Lehrer Andy Bleyler, und zwar – anders als dieser versichert – schon während der Schulzeit.

Ermittler aus dem Büro Kenneth Starrs sind inzwischen in Portland eingetroffen, wo sie mit Bleyler sprechen und Dokumente an der University von Oregon einsehen wollen. Das Sexmagazin Penthouse hat unterdessen Monica Lewinsky zwei Millionen Dollar für ihre Geschichte und ein paar Nacktfotos geboten.

Mittwoch wurde auch der ehemalige Stabschef im Weißen Haus, Leon Panetta, vernommen. Er sei sich keines unziemlichen Verhältnisses zwischen dem Präsidenten und einer Praktikantin bewußt, sagte er anschließend vor der Presse.

Unterdessen stellen sich Ermüdungserscheinungen und zaghafter Protest ein. Zu behaupten, es gehe der Öffentlichkeit nicht um Sex, sondern um Meineid, sei, „als behaupte man, Al Capones eigentliches Verbrechen wäre nicht Mord und Erpressung gewesen, sondern Steuerhinterziehung“, kommentierte heute das öffentlich-rechtliche National Public Radio. Das ist vielleicht der Beginn eines Backlashs gegen die aufgeregte Lüsternheit, mit der sich Medien und Öffentlichkeit auf Clintons Affären gestürzt haben. Portrait Seite 13