„Lebenslänglich“ im Dienste der christlichen Mission

■ Für die Begnadigung Karla Faye Tuckers machen sich auch ansonsten vehemente Verfechter der Todesstrafe in den USA stark – weil sie „Gott gefunden hat“ und deshalb weiterleben soll

„Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – dieses Zitat aus dem zweiten Buch Mose des Alten Testaments war ihm in der Vergangenheit Argument genug, die Todesstrafe zu unterstützen. Und steht nicht in der Bibel geschrieben, daß jeder Mensch für seine Handlungen allein verantwortlich ist – vor sich selbst und vor Gott? Und ist nicht die Todesstrafe das Mittel, um die Schuldigen zu zwingen, noch in diesem Leben Gott ins Auge zu blicken, bevor sie ihm im nächsten Leben gegenüberstehen und ihren Frieden mit ihm machen?

All das hat Pat Robertson, Galionsfigur der christlichen Rechten und Fernsehprediger, „Papst“ der „Christian Coalition“ und Präsidentschaftskandidat, Gründer des einflußreichen „Christian Broadcasting Network“ und Präsident einer eigenen Universität – all das hat er immer wieder gepredigt. Doch nun, im Fall von Karla Faye Tucker, will er eine Ausnahme machen und hat sein christlich-fundamentalistisches Netzwerk mobilisiert. „Karla Fayes Fall zeigt, wie sehr sich ein Mensch verändern kann, nachdem er Gott gefunden hat.“

Tucker ist eine „Born again“- Christin, eine jener US-AmerikanerInnen, die überzeugt sind, eine persönliche Begegnung mit Gott gehabt zu haben. Ginge es nach Robertson, so würde die 38jährige am Leben bleiben, um im Gefängnis weiter andere Insassinnen zu missionieren. An seiner generellen Befürwortung der Todesstrafe, sagt der Prediger und Politiker, ändere dies nichts. Trotzdem ist ein theologisches Dogma der christlichen Rechten ins Wanken geraten, seit Robertson sich für das Leben einer Doppelmörderin einsetzt.

Die Führer der christlichen Rechten sind mit ihrer Unterstützung der Todesstrafe die Ausnahme im religiösen Spektrum der USA. Oft zum Unmut ihrer Basis hatten sich die Führungsgremien der meisten christlichen und jüdischen Glaubensgemeinschaften bereits in den 50er, 60er und 70er Jahren gegen die Todesstrafe ausgesprochen – angefangen von der „Union of American Hebrew Congregations“ 1959 über die „Lutheran Church in America“ 1966 bis zu den „American Baptist Churches“ 1977.

Und während die katholische Kirche längst sowohl Abtreibung wie auch die Todesstrafe strikt ablehnt, argumentieren die Theologen um Robertson anders: „Durch eine Abtreibung wird ein unschuldiger Mensch getötet“, erklärt Gary Hanvey, Dozent für Religionswissenschaften an Robertsons „Regent University“ in Virginia, „durch die Todesstrafe stirbt ein Schuldiger.“

Reue oder Rehabilitation sind in diesem Denken ebensowenig vorgesehen wie in der staatlichen Begründung für die Todesstrafe. In Texas zum Beispiel kann nur zum Tode verurteilt werden, wem durch ein psychologisches Gutachten bescheinigt wird, auch in Zukunft eine Gefahr für die Gesellschaft zu sein. Mit seinem Engagement für Karla Tucker durchbricht Robertson dieses Dogma, wonach zum Tode Verurteilte qua definitionem nicht zu rehabilitieren sind und ihr Leben allein an ihrem Verbrechen zu messen ist.

Was Befürworter einer Abschaffung der Todesstrafe, die ihren neuen Koalitionspartner von der „Christian Coalition“ mit gemischten Gefühlen sehen, verblüfft, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Robertson entscheidet, wer „Gott gefunden hat“ und deswegen weiterleben soll.

Viele zum Tode Verurteilte werden während ihrer jahrelangen Haft im Todestrakt tief religiös – aber an ihrer Seite steht bis zum Schluß nur das altbekannte Häuflein von Bürgerrechtlern, restlos erschöpften Anwälten und kirchlichen Unterstützern oder Seelsorgern wie dem protestantischen Gefängnispfarrer Joe Ingle oder der katholischen Schwester Helen Prejean, Autorin von „Dead Man Walking“. Auch sie setzt sich nun zusammen mit Robertson für Karla Tucker ein.

Sollte George Bush sie nicht begnadigen, kann er sich zumindest einreden, daß ihn Karla Faye Tucker von jeder Verantwortung freigesprochen hat. „Was immer geschieht“, hat sie ihren Unterstützern über Robertsons Fernsehshow „The 700 Club“ versichert, „ist allein Gottes Entscheidung.“ Andrea Böhm