Chaos eingehandelt

■ Hamburgs Einzelhändler spielen bis zur eigenen Verwirrung mit dem Tarifrecht

In der Zentrale des Hamburger Einzelhandels am Cremon herrscht dieser Tage ein wildes Briefköpfe- und Türschildchen-Wechsel-Dich- Spiel. Kurz vor Weihnachten verließen zehn von 15 Hamburger Einzelhandelsverbänden ihren Dachverband, um so aus der Tarifbindung auszusteigen. Seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue Ein- und Austritte oder gar die Gründung gänzlich neuer Verbände für Verwirrung sorgen.

Galten bis zum 31.12.1997 für die 72.000 Beschäftigen im Hamburger Einzelhandel einheitlich die Manteltarif- und Gehaltstarifverträge, so ist seit Neujahr die Lage total unübersichtlich: Die ausgetretenen Branchen unterliegen nämlich nicht mehr der Tarifpflicht. Da nicht wenige Betriebe innerhalb dieser zehn Verbände jedoch weiter an der Tarifpflicht festhalten wollen, wurden flugs zwei neue Verbände gegründet: Einer für Mittel- und Großbetriebe, ein zweiter für Kleinbetriebe. Hamburger Kaufleute haben somit die Wahl, entweder in ihrem tariflosen Branchenverband oder in einem tarifgebundenen Betriebsgrößenverband Unterschlupf zu finden.

Freudestrahlend verkündete gestern die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), daß nach ihren Recherchen immerhin 65 Prozent der Einzelhandelsbeschäftigten schon wieder in den Schoß der Tarifbindung zurückgekehrt seien. Neben vielen Kleinstbetrieben seien aber Großbetriebe wie das Schuhhaus Görtz, Tchibo, C&A, Jäger & Mirow, Schlecker oder Budnikowski immer noch tariflos. Besonders erstaunlich fand die HBV das im Fall Ludwig Görtz, dem Chef der gleichnamigen Schuhhauskette, weil dieser gleichzeitig Chef des tarifgebundenen Arbeitgeberdachverbandes ist. Die HBV forderte denn auch: „Görtz soll als Verbandspräsident zurücktreten.“Der reagierte nur sechzig Minuten später mit der Ankündigung, daß sein Unternehmen umgehend in die Tarifbindung zurückkehren werde.

Dieser kleine Erfolg, das weiß aber auch die HBV, ändert an der neuen Sachlage wenig: Jeder Hamburger Einzelhandelsbetrieb kann sich innerhalb kürzester Zeit frei zwischen Tarifbindung und Tariflosigkeit umentscheiden.

Florian Marten