■ Kratzen gegen den Frieden: Der Nachbar, seine Ehefrau und der Beneidete
: Winterverschwörung

Unter den vielen Geräuschen, mit denen sogenannte Mitmenschen sich einem ins Dasein nötigen, ist das Kratzen eines der scheußlichsten. Jetzt im Winter wird Kratzen zur wahren Plage des Ruhebedürftigen. Er, der Vernünftige, hat sich vor überfrierender Nässe, Nebel, Schneegriesel und Frostbeulen schützend, tief in die mollige Geborgenheit von Kissen und Federbetten zurückgezogen. Sein kluger Plan: bei gedrosseltem Stoffwechsel halb schlafend die lebensfeindliche Jahreszeit zu überbrücken. Er hätte gute Chancen, wäre da nicht das allgegenwärtige Kratzen.

Das Kratzen wird ausgeübt durch den Nachbarn. Der Nachbar ist ein dummer Mensch, der selbst an eisigsten Wintermorgen um fünf Uhr 15 seine Behausung verläßt, um sich in seinem Auto zu einem Arbeitsplatz zu transportieren. Abends stellt der Nachbar aus Gründen, die im Todsündenregister als Neid und Mißgunst geführt werden, das Auto vor das Schlafzimmerfenster des Ruhebedürftigen und läßt es dort von der Witterung vereisen. Am nächsten Morgen um fünf Uhr 15 muß der Nachbar das Auto dann freikratzen, damit der Beneidete wach wird. Das Freikratzen erfolgt mittels einer gezahnten Plastikscheibe, die der Nachbar über alle Fensterscheiben seines Autos kratzt. Der Vorgang beansprucht im Durchschnitt zwölf Minunten Kratzzeit und wird untermalt vom Nageln des gleichzeitig warmlaufenden Dieselmotors der Autos sowie vom teerigen Abhusten und gleich folgendem Ausspeien des vom Nachbarn Abgehusteten.

Nach endlicher Abfahrt des freigekratzten Fahrzeugs träte jetzt vielleicht wieder die Stille ein, die der Ruhebedürftige zur Fortsetzung seiner gestörten Winterpause dringend benötigt. Er hätte gute Chancen, wäre da nicht das allgegenwärtige Kratzen.

Dieses jetzt ist ein tiefes, sonores – eher ein Schaben oder Schrappen. Verursacht wird es durch die Ehefrau des soeben abgereisten Nachbarn, also durch die Nachbarin.

Die Nachbarin ist ein ebenso dummer Mensch wie der Nachbar. So gesehen passen sie also bestens zusammen und sind als gegen den Ruhebedürftigen Verschworene eine doppelt starke, böse Macht. Die Nachbarin befreit mit Hilfe eines Werkzeugs namens Schneeschieber einen etwa vier Meter 50 mal 40 Zentimeter messenden Gehwegstreifen von Schnee. Überwältigende Mengen müssen gefallen sein. Wahrscheinlich ist sogar Lawinengefahr in Verzug. Würde die Nachbarin sonst 45 Minuten ihrer kostbaren Zeit opfern und gefährlich schnaufend und ächzend und schrappend bereits morgens um halb sechs das Letzte aus sich herausholen? Eine rein rhetorische Frage, denn selbstverständlich ist nur ein knapper Zentimeter Schnee gefallen, und natürlich ist das Schrappen der Nachbarin lediglich die Fortsetzung der heimtückischen Winterverschwörung gegen den Beneideten.

Eine erfolgreiche Verschwörung, der sich im folgenden große Teile der Bevölkerung anschließen. Eine wahre Volksbewegung – ein einziges, massenhaftes, ohrenbetäubendes Kratzen gegen den Frieden.

Denn auch alle weiteren Versuche des Ruhebedürftigen, seinen Plan vom seligen Durchdämmern der kalten Tage in die Tat umzusetzen, werden höchst effektiv und kratzend sabotiert. Kein einziges Plätzchen findet sich, an dem ein ausdauerndes Wegsacken geduldet würde. Allüberall kratzen Eiskratzer, schrappen Schneeschieber. Es ratschen Hände an Klettverschlüssen von Winterjacken, knirschen Profilsohlen auf Streugut und schnozzen Nasen in Papiertaschentücher. Papiertaschentücher, die nach Gebrauch in den Hosentaschen ihrer Besitzer mittels Lendenwärme trockengepreßt und anschließend wiederverwendet werden. Die Einwegrotzfahnenmehrfachverwerter aber sind es, die die Rädelsführer der Verschwörung in die Schlacht werfen, wenn der Ruhebedürftige trotz allen Kratzattacken doch noch irgendwo einzuschlafen droht. Dann schicken sie so einen in seine Nähe. Um das visitenkartenkleine, pulvertrockene Schnözzelchen aus der Tasche zu zutzeln. Um es auseinanderzuprusseln. Um es aufzufazzeln. Das kratzt und knirscht und pfuzzt. Und dann wird es wiederbeschneuzt. Laut und deutlich. So lange, bis der Winter zu Ende ist. Vorher wird es keine Ruhe geben. Fritz Eckenga