■ Lauschangriff: Proteste kommen spät und sind unglaubwürdig
: Freiheit als ständisches Privileg

Nun scheint sie ja doch wieder zu kippen, die im Bundesrat notwendige Zweidrittelmehrheit zur Einführung des Großen Lauschangriffs. SPD-Chef Oskar Lafontaine will eine Zustimmung der SPD-geführten Länder zur Verabschiedung erweiterter Lauschbefugnisse an substantielle „Nachbesserungen“ koppeln. Doch die wird er nicht bekommen. Der Law- and-order-Mann Gerhard Schröder kann nicht zustimmen, will er vermeiden, im gegenwärtigen Landtagswahlkampf in Niedersachsen von der Opposition als wankelmütiger Sicherheitspolitiker vorgeführt zu werden. Und aus den Reihen der unionsregierten Länder kann Lafontaine mit einem Entgegenkommen erst recht nicht rechnen.

Scheitert der Kompromiß am Freitag im SPD-dominierten Bundesrat, dann läßt sich das im anstehenden Bundestagswahlkampf herrlich ausschlachten. CDU und CSU werden alles tun, die SPD als vermeintliches Sicherheitsrisiko vor sich her zu scheuchen. Der rationale Diskurs, die Frage nach Sinn oder Unsinn eines Großen Lauschangriffs, wurde schon vor langer Zeit eingestellt. Längst über Bord geworfen sind auch die Bedenken, die im Grundgesetz verbriefte Unverletzlichkeit der Wohnung auszuhebeln und damit den Staatsdienern den Zutritt zur Privatsphäre ihrer BürgerInnen zu verschaffen.

Die augenblickliche Debatte um den Einsatz der elektronischen Überwachung zeigt auch an anderer Stelle – bei den Ärzten, Rechtsanwälten und Journalisten – populistische Züge. Seit Jahren wird die Debatte um den Lauschangriff geführt, mit wenigen Ausnahmen war von den genannten Berufs- und Standesorganisationen nicht viel zu hören. Alle beugten sich dem schlichten Argument, wonach der Staat nachrüsten müsse, wolle man ihm die „Waffengleichheit“ mit der Organisierten Kriminalität nicht verwehren. Daß zur gleichen Zeit die Anzahl der schwerwiegenden Delikte in der Kriminalitätsstatistik bereits rückläufig war, wurde dabei nicht wahrgenommen.

Erst als sich herausschälte, wie weit die Bonner Pläne in die Sphäre der jeweiligen Berufsgruppen hineingreifen, regte sich Widerstand, wurden Sonderregelungen und Privilegien eingeklagt. Die SPD greift in der Person ihres Parteichefs Lafontaine nun diese Proteste auf – mit der kuriosen Folge, daß die Sozialdemokratie jetzt über den Bundesrat das bekämpft, was sie im Bundestag mit verabschiedet hat.

Der Streit ums Lauschen zeigt aber auch, wie wenig bürgerliche Freiheitsrechte in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit gelten. Auf seiten der Linken mag das daran liegen, daß sie keinen ausgeprägten Begriff bürgerlicher Freiheitsrechte entwickelt hat. Der Kampf gegen den „Repressionsapparat“ in den siebziger und achtziger Jahren der alten Bundesrepublik war überwiegend getragen von einer antistaatlichen Haltung, in der Telefonüberwachungen, Observationen oder Hausdurchsuchungen als integraler Bestandteil eines Systems wahrgenommen wurden, das es als Ganzes zu bekämpfen galt. Die Frage nach dem konkreten Verhältnis des Individuums zum ungeliebten Staat stellte sich damit erst gar nicht.

Die bürgerlichen Parteien, allen voran die FDP, opferten dagegen nicht nur die Privatsphäre der BürgerInnen ohne große Bedenken einer angeblich verbesserten Kriminalitätsbekämpfung, sondern auch die Unschuldsvermutung. Noch gilt, daß die Polizei jeden Verdächtigten vor der ersten Vernehmung über seine Rechte belehren muß. Er darf nicht getäuscht werden, auch sind alle Mittel, die den freien Willen eines Beschuldigten beeinträchtigen, verboten. Kein Mensch muß sich selbst belasten. Mit der Erlaubnis des Großen Lauschangriffs in den Privatwohnungen sind diese rechtsstaatlichen Errungenschaften, die gegen den vordemokratischen Willkürstaat durchgesetzt wurden, erledigt. Daran ändert wenig, wenn einzelne Berufsgruppen beim großen Lauschen ausgenommen werden.

Der Vater der amerikanischen Verfassung, Benjamin Franklin, hat zutreffend formuliert: Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren Wolfgang Gast