Der Berliner Unwille

■ Wie dem Wirtschaftsbürger das Maß von Welt verlorenging. Historische Notizen

Mit dem „Wirtschaftsbürger“ beschworen einst Heinz und Ludwig Erhardt den spätheimgekehrten Arbeiter und den neuen Unternehmer. Er kam indes nie so recht zur Parade, nun soll er sich gar an die Spitze der Deregulierung setzen. In Berlin ist das besonders hoffnungslos: In der deutschen Hauptstadt ging es den ökonomisch Selbsttätigen bereits 1448 an die Gurgel, was man bis heute den „Berliner Unwillen“ nennt: Der brandenburgische Markgraf nutzt ein Vermittlungsgesuch des zerstrittenen Bürgertums, um Besitz und städtische Selbständigkeit an sich zu bringen. Die Bürger einigen sich und rufen – vergeblich – die Hanse zu Hilfe. „Unwillig“ müssen sie dann mit ansehen, wie Friedrich II. 1450 auf ihre Kosten sein Residenzschloß in der Stadt errichtet (bis heute ein Top-Diskussionsgegenstand).

Die Berliner Niederlage ist von nationaler Bedeutung: Noch vor der Niederschlagung der „witzig“ gewordenen Bauern (1525) werden die Städte dem Adel gefügig gemacht! Davon hat sich das deutsche, speziell das Berliner Bürgertum nie wieder erholt: Noch bis 1917 gilt das Dreiklassenwahlrecht. Erst 1918 setzt die revolutionäre Arbeiterbewegung die bürgerlich- parlamentarische Demokratie durch. Das politische Desaster von 1448 ging unmittelbar einher mit einem wirtschaftlichen: Frankfurt (Oder) wurde wichtiger als Berlin, das sich erst wieder berappelte, als der Feudalherr dies für notwendig erachtete. So ließ er z.B. 1662 den Spree-Oder-Kanal bauen, der Berlin aus seiner abseitigen Lage befreite und womit sein Warenaufkommen wieder an das von Hamburg heranreichte (heute erhofft man sich erneut ähnliches – vom Kanalbau). Alle neuen Innungen waren stets an den Repräsentationsbedürfnissen des Landesherrn orientiert. Sogar die Berliner Börse wurde vom Hohenzollern und nicht vom Bürgertum eingerichtet. Und selbst die Teilnahme der finanzstarken Bürger – der Juden – an dieser Veranstaltung mußte er noch gegen „seine“ Berliner durchsetzen. 400 Jahre nach dem „Unwillen“ scheitert das Bürgertum in seiner „Erhebung“ erneut: Die Revolution von 1848 bringt den Berlinern nicht viel mehr als die Aufhebung des Rauchverbots in der Öffentlichkeit. Erst die zwei Kabinettskriege in den 60ern bringen Bewegung. Doch obwohl die Zünfte sich auflösten und in den Gewerkschaften wiederkehrten (die nun erneut ein „Strukturproblem“ haben), erreicht die „kleindeutsche Lösung“ nicht einmal das, „was die Bourgeoisie anderswo längst besitzt, und läßt die Hauptschikane, das bürokratische Konzessionswesen, unberührt“. (F. Engels)

Dem Bürgertum hierzulande steckt 1448 noch in den Knochen. Es will nicht herrschen: „Wir sollen und wollen auch in Zukunft ... willig und gehorsam Untergebene sein und bleiben, ohne Ausrede, ohne Arg und ohne alle Gefährde“. (So gelobte man damals; bis heute ist die Berliner Bürgerpresse von besonders autoritärer Kritiklosigkeit; und auf die ängstliche „Befreiung“ 1989 folgte sogleich die Heimholung der letzten Hohenzollerngebeine.) Das Anforderungsprofil des Wirtschaftsbürgers – Sehen, Erkennen, Handeln – ist derart mit Stumpf und Stil ausgerottet, daß das Maß von Welt verlorengegangen ist. Daraus folgt Über- wie Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten: Für sich nichts, für Kaiser und später Führer alles – sich zutrauen. Man hat eine moderne Gesellschaft – aber mit feudalen Interessen. Kriege im Kapitalismus sind laut Engels so rational wie Betriebsführung. Sich deshalb in einen Krieg gegen alle, aber auch jeden, zu stürzen, und das zweimal kurz hintereinander, zeugt von völliger Bindungslosigkeit zur realen Welt (die mit Wahnsystemen überbrückt wird) und von Lernunfähigkeit. Die Italiener z.B. brauchen nach Stalingrad nur ein halbes Jahr, um zu merken, der Krieg ist verloren – und schicken Mussolini zum Teufel!

Im Endeffekt war die Berliner Bourgeoisie nach den zwei Irrsinns-Unternehmungen – WKI und WKII – abgeräumt. Die Reste setzten sich aus den beiden Stadthälften klammheimlich nach Westdeutschland ab. Was dann statt dessen hochkommt, sind subventionierte Bauluden. Man schaue sich dazu nur den goldkettchenbehangenen Geschäftsbetrieb in der Industrie- und Handelskammer an und vergleiche ihn mit dem dezenten Publikum der Hamburger Einrichtung. Nicht einmal die Wende wackelte am Erscheinungsbild der Protz-Poliere. Dazu paßt, daß amerikanische Privatknast- und Spielcasino-Aktien in Berlin Börsenhits sind. Die politische Opposition dazu erschöpft sich in einer „FDP des öffentlichen Dienstes“ – AL genannt –, die spitzfindig an den Aufschwung-Ost- Abschreibungsobjekten Fassadenkritik betreibt. Der Masterplan ersetzt den Monarchen! Die „Oppositionellen“ wohnen inzwischen übrigens alle in den ehemaligen jüdischen Villen und Bauhaus-Palästen am Stadtrand. Kein Wunder also, daß das vom Bundespräsidenten und anderen Querdenkern geforderte „Umdenken“ nicht viel mehr bisher hervorgebracht hat als innenbeleuchtete Litfaßsäulen, privat betriebene öffentliche Toiletten und einen wüsten Konzessionshandel um Parkraumbewirtschaftung. Anderswo (in den USA und der Türkei z.B.) stiftet eine Dienstleistung Existenz und Sinn, hier ging es 550 Jahre lang genau umgekehrt darum, daß nur eine individuell-unwillige Verweigerung von Dienstleistung Identität schuf. Was der Dramatiker Heiner Müller vorschnell als große proletarische Errungenschaft feierte. Mathias Mildner