■ Nach dem Verbot der islamistischen Wohlfahrtspartei verordnen die Kemalisten einen türkischen Islam mit protestantischem Charakter
: Die Versöhnung von Staat und Moschee

Sonderbare Auswüchse entspringen der politischen Kultur der Türkei. Die islamistische Wohlfahrtspartei, die stärkste politische Kraft des Landes, wird verboten, ohne daß innere Unruhen folgen. Statt Radikalisierung verordnet der Führer des politischen Islam, Necmettin Erbakan, Mäßigung und Geduld. Und die Wächter des republikanischen Regimes begnügten sich nicht mit dem Verbot der Wohlfahrtspartei, sondern ebnen nun einer ideologischen Renaissance des Islam den Weg.

Theologen predigen Tag für Tag im Fernsehen, daß die Zeit reif sei, zu den Ursprüngen des Koran zurückzukehren, den böse Muslime im Laufe der Geschichte besudelt hätten. Vom „arabischen Kulturimperialismus“ ist gar die Rede, den die Türken abschütteln müßten, um zur reinen Religion zurückzukehren. Die neuen Religionsideologen fordern den Gebetsruf und Gebete auf türkisch. Frauen, islamischer Gebetsrituale unkundig, postieren sich neuerdings beim Gebet in der Moschee vor Fernsehkameras, um der emanzipatorischen Farbe des neuen türkischen Islam Ausdruck zu geben. Der brave Christ, den Hexenverbrennungen anekeln, findet seine Entsprechung beim braven, türkischen Muslim, der angewidert im Fernsehen die Steinigung von Ehebrecherinnen im Iran verfolgt.

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Der neue türkische Islam bedroht nicht Staat und Regime, ist nicht reaktionär, mit der Demokratie kompatibel und damit reif für die EU. Dem Schein nach hat die säkulare Türkische Republik nach 75 Jahren Kulturkampf Frieden mit der Religion geschlossen. Doch das Projekt des türkischen Islam ist verordnet. Die Militärs haben nicht nur Erbakan aus dem Amt des Ministerpräsidenten gedrängt, sie sind auch die Drahtzieher des Projekts einer nationalen Staatsreligion. Der politische Islam in der Türkei mag heute geschwächt und orientierungslos dastehen. Eines seiner wichtigsten Ziele hat er dennoch erreicht – die Anerkennung muslimischer Identität. Mittlerweile gehört es zur Floskel jedes um Wahlstimmen werbenden türkischen Politikers, daß „wir alle Muslime sind“.

Die Renaissance des Islam bedeutet nicht weniger als die Revision des klassischen Kemalismus, auf den sich das Militär bei seinen politischen Interventionen immer wieder beruft. Für Republikgründer Mustafa Kemal (Atatürk) war die Religion etwas Äußerliches, und es galt deren Einfluß zurückzudrängen. Worte wie „die Religion Mohammeds“, „die Religion der Araber“ deuten das Verhältnis Kemals zur Religion an. Autoritär wurden von den Kemalisten radikale Reformen zur Durchsetzung des Laizismus in der Türkei durchgesetzt: die Abschaffung des Kalifats, das Verbot islamischer Sekten, die Verbannung des Arabisch- und Persischunterrichts aus den Schulen, die Einführung des aus der Schweiz übernommenen Zivilrechts, des lateinischen Alphabets und des gregorianischen Kalenders. Mit dem staatlichen Bildungsmonopol wurde die islamische Geistlichkeit (ulema) aus den Schulen verbannt. Der von den Militärs und Bürokraten oktroyierte türkische Nationalismus sollte anstelle der Religion der Kitt des neuen, mehrheitlich von Muslimen bewohnten Staates sein.

Mit der Rezeption des europäischen Positivismus waren die Republikgründer der Idee anheimgefallen, ohne Religion leben zu können. Die Kemalisten schafften es zwar, den Islam weitgehend aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Doch mit der Demokratisierung und der Einführung des Mehrparteiensystems Ende der vierziger Jahre wurden in der Politik wieder Forderungen der Gläubigen aufgegriffen. Die Wiedereinführung des arabischen Gebetsrufes, der 1932 von den Kemalisten auf türkisch verordnet wurde, war eine der Entscheidungen der Regierung unter der Demokratischen Partei, die aus den ersten wirklich freien Wahlen 1950 hervorgegangen war. Auch die Zahl der religiösen Schulen – zwar unter staatlicher Aufsicht – nahm wieder zu. Ebenso setzten die Generäle, die 1980 putschten und sich auf Atatürk beriefen, den Islam als Gegengift für die „kommunistische und separatistische Bedrohung“ ein. Religionsunterricht an den Schulen wurde Pflichtfach, und in den achtziger Jahren förderte man die kurdisch-islamische Terrororganisation Hisbollah gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Der Islam als Religion, die keine Nationen kennt, sondern nur die Gemeinschaft der Gläubigen des Islam, mußte in Flugblättern des Generalstabes dafür herhalten, die PKK zu verteufeln. Von dem Putschistengeneral Kenan Evren ist die Aussage überliefert, daß „ein Atatürkismus ohne Religion die Türkei in die Anarchie treibt“. Und der türkische Politiker Turgut Özal förderte Ideologen, die nach einer Aussöhnung des türkischen Nationalismus mit dem Islam trachteten.

Der aufgepfropfte Nationalismus, die Rede von „Wie glücklich, wer sich Türke nennen kann“ ersetzte die religiösen Bindungen nicht. Und die islamistische Bewegung thematisierte nicht nur Armut und die Ausgrenzungsmechanismen des modernen Kapitalismus, sondern auch die Suche nach moralischen und ethischen Werten, die im revolutionären Kulturwandel verlorengegangen waren. Die herrschende Klasse, die die islamistische Wohlfahrtspartei hat verbieten lassen, versucht nun, dieses Vakuum mit dem neuen, modernen türkischen Islam aufzufüllen. Zu Recht weist der Publizist Tanil Bora in der Wochenendbeilage der Tageszeitung Radikal auf den protestantischen Charakter dieses neuen türkischen Islam hin. Idol der Nationalisten bleibt Martin Luther, der „eine neue Sprache und Nation erschuf“.

Obwohl das Projekt des neuen Islam von oben verordnet ist, hat es durchaus Chancen, in die Poren der Gesellschaft einzudringen. Es kommt der heterogenen Praxis des Islam im Lande entgegen. Beispielsweise trinken Millionen Menschen in der Türkei Alkohol und gehen gleichzeitig freitags in die Moschee. Hinzu kommen die Aleviten, die sich ohnehin nicht an die sunnitische Orthodoxie halten. Der Säkularisierungsprozeß wird häufig auch als ausschließlich diktatoriales Rahmenwerk der Republik mißverstanden. Doch bereits das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert kann nicht als theokratischer Staat bezeichnet werden. Gegen die mächtigen ideologischen Apparate – allen voran die staatlichen Schulen und das Amt für religiöse Angelegenheiten –, die nunmehr nicht religionsfeindlich wirken, sondern auf Assimilation setzen, hat der politische Islam einen schweren Stand. Ömer Erzeren