„Flüstern und Schweigen sind im Zeichen des Massenmordes geboten“

■ Walter Jens, Ehrenpräsident der Berliner Akademie der Künste, ist vom einstigen Befürworter zum Gegner eines Holocaust-Mahnmals geworden

taz: Herr Jens, Sie haben 1989 den ersten Aufruf von Lea Rosh für ein Holocaust-Mahnmal unterschrieben und im März 1995 als Vorsitzender der Jury die premierten Entwürfe vorgestellt. Warum nun die Kehrtwendung?

Walter Jens: Man lernt, sieht sich die Modelle wieder und wieder an und stellt fest, daß man den Schrei nicht überschreien kann. Auch die neuesten Entwürfen haben mich nicht überzeugt. Nach einem langen Prozeß habe ich erkennen müssen, daß es eine adäquate, zumal monumentale Erinnerung an den millionenfachen Mord nicht geben kann.

Befürchten Sie nicht Applaus von der falschen Seite? Es gibt nicht wenige, die aus anderen als ästhetischen Motiven auf ein Mahnmal verzichten wollen.

Vor dem Beifall der falschen Seite, von der nationalistischen gar, ist man niemals geschützt. Ich bleibe dabei: Eine Annäherung an das größte und schauerlichste Verbrechen gelingt, wenn überhaupt, durch das kleine und bescheidene Denkmal, eine vernünftige Dokumentation und durch neue Formen der Erinnerung.

An welche denken Sie?

Ich hielte zum Beispiel den Nachdruck der großen Zeitung der deutschen Juden, der Jüdischen Rundschau, für eine sinnvolle Form, das Gedenken wachzuhalten. Das sollte öffentlich gefördert werden. Wenn Sie heute in alten Ausgaben der Rundschau lesen, wie die Juden um die Pflege ihrer Gräber in Sorge waren, wird das Unangemessene des Bombastischen doppelt sichtbar.

Bundeskanzler Helmut Kohl, an den der Brief adressiert ist, hat sich die jüngsten Entwürfe in Berlin angesehen. Glauben Sie wirklich, Ihr Appell könnte Kohl noch beeinflussen?

Der Bundeskanzler ist glücklicherweise nicht der Alleinentscheider, und er ist schon gar nicht der oberste Ästhet der Nation. Schon mit seiner Entscheidung, in der Gedenkstätte in der Neuen Wache die überdimensionierte Kopie einer Käthe-Kollwitz-Plastik aufzustellen, hat er einen schauerlichen Geschmack bewiesen. Ich wende mich dagegen, daß ein Mann, der auf dem Felde der Ästhetik eher ein Zwerg denn ein Riese ist, letzten Endes darüber entscheidet, ob und wie das Holocaust-Mahnmal errichtet wird.

Lea Rosh wirft Ihnen und Günter Grass „Unglaubwürdigkeit“ vor.

Es gibt manche, die starr bleiben: nichts dagegen. Aber es gibt andere, die alles noch einmal bedacht haben. Der Mensch ist ein lernfähiges Wesen, das zum Beispiel erkennen kann: Nur Flüstern und Schweigen, nicht pathetische Gestik sind im Zeichen des Massenmordes geboten. Interview: Severin Weiland