■ Nachschlag
: Brahms flottgemacht: Jewgenij Kissin in der Philharmonie

Eigentlich wurden auch Weberns „Fünf Sätze für Streichorchester“ und Messiaens „Et exspecto resurrectionem mortuorum“ gespielt. Aber angesichts des Auftritts des Pianisten Jewgenij Kissin mit Brahms' erstem Klavierkonzert d-moll fiel diesen Stücken leider eine undankbare Nebenrolle zu.

Hölzern und ungelenk wie immer nimmt Kissin die Vorschußlorbeeren des Publikums entgegen, doch sobald er den ersten Finger krümmt, spielt er sich frei. Das Klavier als Kanalisationsmöglichkeit: Ein uraltes Klischee findet hier endlich sinnvolle Anwendung. Dirigent war der Gute-Laune-Mann und neugewählte Glücksbringer der Münchener Philharmoniker, James Levine. Diesmal allerdings mit dem Berliner Philharmonischen Orchester, was eine gute Ausgangsbasis für Brahms ist. Hat doch speziell dieses Orchester ein Händchen für Fragen existentieller Natur – rein musikalisch, versteht sich. Doch ein Seelendrama wird bei Levine nicht daraus.

Der Beginn kommt noch recht wuchtig, dann läßt die Drastik deutlich nach. Brahms wird flott. Ein bißchen zu flott offensichtlich für Kissins Empfinden, der ganz eigene Tempovorstellungen hat und davon partout nicht lassen will. Zum Glück sogar, denn Kissin hat ein zielsicheres Gespür für architektonische Strukturen. Dafür, wie man Spannungsbögen auf- und wieder abbaut, damit eine musikalische Pointe auch als solche bemerkt werden kann. Dafür gehen er und der Dirigent nicht immer exakt Hand in Hand.

Rollentausch im dritten Satz: Kissin schwirrt ab, und das Orchester, das sich zwar schwer ins Zeug legt, um ihn nicht am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen, spielt dennoch – gezwungenermaßen – hinterher. Trotzdem bleibt Raum für eine von Kissins größten Finessen: extreme Lautstärkeschattierungen in verschiedenen Segmenten, ein paar Tönen, einem Takt oder einer Phrase. Die werden dann in die jeweils größeren integriert, um als Teil einer weiteren, anderen dynamischen Struktur zu funktionieren. Auf die Spitze getrieben führt das zu einem ungeheuer subtilen Eindruck nervöser Unruhe, was hier aber sinnvollerweise weniger überbordet als bei formalen Freistil-Kompositionen von Liszt oder Schumann. Standing ovations, Zugaben und Autogrammstunde. Für Verehrer/-innen und die, die an ihre dürftige Altersversorgung denken. Denn man kann ja nie wissen. Annette Lamberty

Berliner Philharmonisches Orchester, Solist: Jewgenij Kissin, Dir.: James Levine, spielen Webern, Messiaen und Brahms (Klavierkonzert Nr. 1 d-moll op. 15) heute in der Philharmonie