Gesäubertes Berlin

■ betr.: „Kein Interesse an Rußland- Zentrum“, taz vom 27.1. 98

[...] Mit dem Verschwinden der Sowjetunion von der politischen Weltkarte verschwinden auch bequem geschichtliche Tatsachen, und die zur Erinnerung gemahnenden Denkmäler werden nebenbei gewollt dem Verfall und der Vergessenheit preisgegeben.

Zur Erinnerung: Am 25. April 1945 gab es die erste Begegnung sowjetischer und amerikanischer Truppen bei Torgau an der Elbe. Am 29. April kämpften sowjetische Truppen vor der Reichskanzlei in Berlin. Am 2. Mai unterzeichnete in Gegenwart sowjetischer Militärs der Stadtkommandant von Berlin die bedingungslose Kapitulation. Nach Unterzeichnung der bedingungslosen Gesamtkapitulation am 8. Mai besetzten die vier Hauptmächte der Antihitlerkoalition Deutschland. Anfang Juni wird Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Berlin wird danach von den vier Siegernationen besetzt, Sachsen und Thüringen von den Amerikanern geräumt und den Sowjets übergeben. Es entsprach dem Geiste und der Bündnistreue der Antihitlerkoalition, daß die Sowjets Berlin befreiten. Amerikaner, Engländer und Franzosen kamen erst viel später nach Berlin. Was lernen wir: Eine (!) Macht hat Berlin befreit, die anderen drei befreiten gerade woanders! Daß nun niemand mit dem Wunsch an den Wissenschaftssenator herangetreten ist (so die Sprecherin des Senators), ein Rußland-Zentrum – lt. Beschlußlage des Senats sollen die drei West-Alliierten universitär in der Stadt vertreten sein – ist nicht allein mit der Gefühlslage in der Stadt seit der Lüftbrücke zu erklären. Allein daran erinnert zu werden, daß auf dem Reichstag mal die leuchtend rote Fahne der Sowjetunion wehte, verbietet eine Vierer-Alliierten-Akademiker- Präsenz für diese unsere Stadt. Berlin wird in fast jeder Hinsicht gesäubert. Christian Wiesner-Stippel