Angriff der Blaskapellen

Goran Bregović machte sie salonfähig – die Brassbands des Balkans. Doch der wahre Boom steht noch bevor, wenn mehrere Ensembles die Sommerfestivals stürmen  ■ Von Daniel Bax

Seit Mark Hermans Spielfilm „Brassed Off“, diesem tragikomischen britischen Bergarbeitermelodram, ist die Blaskapelle auch in Westeuropa vom Ruch des indiskutabel Spießigen befreit. Plötzlich entdeckten urbane Kinogänger, die im Leben nie ihren Fuß in ein bayerisches Bierzelt gesetzt hätten, ihre Sympathie für das Schicksal und den Überlebenswillen einer Brassband aus Yorkshire. Im Osten Europas dagegen galten ohnehin lange andere Coolness- Kriterien – hier blieben die folkloristischen Traditionen viel länger lebendig. Dabei sind ihre Wurzeln oft ziemlich obskur.

Vom Osmanischen Reich ist auf dem Balkan wenig mehr geblieben als eine bleibende Aversion gegen die ehemaligen Besatzer, die Türken. Doch in der Musik der Region hat die jahrhundertelange Okkupation deutliche Spuren gelassen. Die furchterregenden Militärblaskapellen der osmanischen Janitscharenheere jedenfalls hinterließen einen bleibenden Eindruck. Lokale Musiker, vor allem Roma, imitierten die türkischen Militärkapellen, indem sie ihre Besetzung übernahmen. Blechblasinstrumente ersetzten mit der Zeit die traditionellen Ensembles mit Oboe und Trommel. Ob in Bulgarien, Mazedonien, Serbien oder Rumänien – überall sind heute noch die orientalischen Einflüsse hörbar. Und vielerorts hat sich diese Tradition der Dorfmusik seit Jahrhunderten noch ungebrochen gehalten.

Es ist dem bosnischen Komponisten Goran Bregović zu verdanken, daß er der regionalen Blasmusik des Balkans zu internationalen Ehren verhalf. Seine Musik zu Emir Kusturicas Film „Underground“ schubste die jugoslawische Dorfmusik auf einen Schlag ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit (siehe nebenstehenden Artikel). Möglich, daß er damit den Startschuß gab für etliche Weltmusik-Trendscouts, die sich plötzlich aufmachten, in den unwegsamen Bergregionen des Balkans nach talentierten Tanzorchestern zu stöbern. Und nicht selten fündig wurden.

Im Dorf Zece Prajeni (zu deutsch: Bei den zehn Feldern) im Nordosten Rumäniens zum Beispiel. Dort, an der moldawischen Grenze, stießen findige A&R-Rechercheure auf örtliche Fanfaren – so heißen die Blaskapellen in Rumänien –, die ihnen schier den Atem verschlugen. Die Fanfaren aus Zece Prajeni sind nämlich so etwas wie die Punkcombo unter den Blasorchestern: entfesselte Blechbläser, die auf ihren verbeulten Instrumenten einen regelrechten Orkan entfachen. Die Fanfare Ciocarlia, wie sich die Gruppe um den Bandkopf Ioan Ivancea heute nennen, sind ziemlich stolz darauf, die schnellste Tzigani-Blaskapelle der Welt zu sein. „Radio Pascani“, ihrer ersten Aufnahme für ein westeuropäisches Publikum, merkt man das gleich beim ersten Hören an – 23 Stücke in weniger als einer Stunde, komprimierte Quäklaute aus gequältem Blas-Equipment: You ain't heard nothing like that yet.

Das vielköpfige Ensemble, dessen Altersskala von 22 bis 68 Jahren verläuft, ist gut bei Puste. Zu Hochzeiten, Taufen und anderen Festen fahren die Musiker ihre Klarinetten, Trompeten und Hörner auf, holen tief Atem und bringen damit so manche Partygesellschaft auf Trab. Ihre Musik ist Gebrauchsmusik für besondere Anlässe wie Geburten, Taufen, Hochzeiten und andere Feste.

Ihr Repertoire umfaßt traditionelle Tanzstücke, aber auch aktuelle Schlager aus dem Radio – die Volksmusik der balkanischen Blaskapellen ist nur in dem Sinne traditionell, was ihre Produktionsmittel angeht. Aus diversen Quellen speist sich ihre Essenz – bulgarische, mazedonische, rumänische und serbische Folklore, traditionelle Tänze wie Sirba, Hora und Briu, aber auch Rumba, Salsa oder indische Filmmusik. Einen Abba- Hit integrieren sie so mühelos wie einen Lambada, aber stets bekommen die auswärtigen Melodien diese eigenartig lokale Patinafärbung – die Blaskapellen treiben die Bastardisierung der Musiken auf die Spitze. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist da einiges in Fluß geraten. Aber natürlich finden sich auch noch Fragmente aus Ostblockzeiten im Folkloregewand wieder.

Das Koćani Orkestar etwa stammt aus der Stadt Koćani in der Republik Mazedonien. Ihr kürzlich veröffentlichtes Album nannten sie ironisch „Der Osten ist rot“ – der Titel entstammt einem populären chinesischen Propagandaschlager, der in der Tito-Ära so etwas wie ein Hit wurde. Das Ensemble um Naat Veliov spielt das Stück heute noch gerne – und hat damit schon auf diversen großen Festivals brilliert, darunter in Roskilde, dem Jazz-Festival in La Villette und dem Womad-Festival in England.

Weil ihre Plattenfirma in Belgien sitzt, sind sie bisher vor allem in Frankreich, der Schweiz und Italien aufgetreten. Jetzt zielen sie auf die deutschen Bühnen – wo sie in direkte Konkurrenz geraten zu den Fanfare Ciocarlia, die sich im vergangenen September bei der Weltmusikmesse Womex in Marseille mit Pauken und Trompeten einführten. Ein dritter aussichtsreicher Kandidat für die großen Sommerfestivals ist schließlich die zehnköpfige Etropole Brass Band aus Bulgarien, ebenfalls mit brandneuer CD im Gepäck. Trotz drohenden Überangebots, Interesse dürfte allen sicher sein: Denn wer bisher schon den Folkpunk der Negresses Vertes oder der Pogues mochte, wird auch die Dorfhymnen des europäischen Orients zu schätzen wissen.

Fanfare Ciocarlia: „Radio Pascani“ (Piranha)

Koćani Orkestar: „L'Orient est Rouge“ (Cramworld)

Etropole Brass Band: „Horus and other Wedding Music“ (Pan Records, Leiden; nur Import!)