Indiens BJP verläßt den gemäßigten Kurs

In ihrem Wahlprogramm betont die favorisierte Hindupartei BJP wieder stärker die nationalistischen Töne. Sie will Indien zur Atommacht erklären und sich für die Zukunft die Option von Nukleartests offenhalten  ■ Aus Delhi Bernard Imhasly

Der mächtigste Mann Indiens ist dieser Tage M. S. Gill. Er ist oberster Wahlkommissar und darf sogar Armee-Einheiten einsetzen. Im Wahlkampf, der Anfang der Woche offiziell begonnen hat, sind auch Prominente nicht vor Gill sicher. Als Premierminister Inder Kumar Gujral am Dienstag bei einer Wahlrede in Madras die Frist um einige Minuten überzog – es darf nur bis zehn Uhr abends Wahlkampf betrieben werden –, schickte der nervöse Wahlkreiskandidat ihm einen Zettel aufs Rednerpult, seine Rede doch möglichst rasch zu beenden. Am nächsten Morgen hinterlegte die Opposition auch prompt eine Klage.

5.000 Kandidaten bewerben sich für die 543 Sitze – das ist ein Rückgang der Zahl der Bewerber um die Hälfte gegenüber den letzten Wahlen 1996. Der Grund sind die erhöhten Wahlkampfkosten, die durch den Einsatz lokaler Fernsehwerbung pro Kandidat auf bis zu eine halbe Million Mark gestiegen sind. Dazu kommt, daß ein strikter Verhaltenskodex, der zwar den Einsatz von Schwarzgeld erschwert, auch die billige Bemalung von Häuserwänden verbietet. So konnte man am Mittwoch in einer südindischen Stadt Freiwillige der Kongreß-Partei sehen, die Slogans ihres Kandidaten weiß übermalten, weil ihm sonst die Disqualifikation gedroht hätte.

Die von den Buchmachern für die am 16. Februar beginnenden Wahlen favorisierte Bharatiya Janata-Partei (BJP), die schon bisher die größte Parlamentsfraktion stellte, hat in dieser Woche als letzte der großen Parteien ihr Programm vorgestellt. Hatte sich die hindu-nationalistische Partei und besonders ihr Spitzenkandidat Atal Behari Vajpayee in letzter Zeit um ein gemäßigtes Image bemüht, bezieht die BJP in ihrem Programm jetzt wieder erstaunlich eindeutig Stellung für einen politischen und wirtschaftlichen Nationalismus. Falls die BJP an die Macht kommt, will sie Indien offen zur Nuklearmacht erklären und sich die Option von Atomtests offenhalten.

Die BJP verwahrt sich gegen die von ihr so bezeichnete „nukleare Apartheid“ der Atomstaaten und will die in Indien entwickelten Lenkwaffen Agni und Prithvi serienmäßig produzieren lassen. Der US-Botschafter in Delhi, Richard Celeste, hat noch am gleichen Tag gewarnt, eine Atombewaffnung und vor allem neue Atomtests könnten „sehr störende Konsequenzen“ haben. Indien habe das Recht, seine Sicherheitsinteressen zu wahren, aber ein Atomtest würde Maßnahmen seitens der USA auslösen.

Der Ton der BJP hat sich auch beim Wirtschaftsprogramm verschärft. Das Manifest nimmt für sich in Anspruch, die BJP sei immer gegen staatliche Einmischung gewesen. Der Reformprozeß werde daher weitergeführt. Aber er werde in erster Linie auf die Privatwirtschaft ausgerichtet. Auslandsinvestitionen seien nach wie vor willkommen, aber nur, wenn sie die indische Industrie stärkten und nicht in die Ecke drängten. Die indische Industrie müsse daher für die nächsten sieben bis zehn Jahre geschützt werden.

Das BJP-Manifest steht unter dem Slogan „Eine Nation, ein Volk, eine Kultur“. Bei der einen Kultur ist die „Hindutva“-Ideologie angesprochen, welche die Mehrheitsposition der Hindus ausspielen will. Minderheiten wie die Muslime und Christen hätten nichts zu befürchten, da religiöse Toleranz ein Teil dieser Kultur sei. Aber es ist klar, daß in einem solchen System der Schutz der Minderheiten nicht mehr aus der Verfassung, sondern vom Wohlwollen der Mehrheit abhängig ist.

Die BJP will ein Zivilgesetz durchsetzen, das die bisherigen Sonderregelungen der Minderheiten im Erb- und Familienrecht aufheben soll. Die Gegner befürchten, die Partei könnte dabei hinduistische Normen einführen. Im Fall Kaschmirs will die Partei den Sonderstatus dieses Gliedstaates aufheben, da nur so sezessionistische Gelüste gedämpft werden könnten. Ein weiteres Mal bekennt sich die BJP dazu, in der Stadt Ayodhya auf den Ruinen der 1992 zerstörten Moschee einen Ram-Tempel bauen zu wollen.

Bei der Vorstellung ihres Programms bemühten sich die Parteioberen, die harte Linie in Watte zu verpacken. BJP-Parteichef L. K. Advani sagte, eine offene Atomwaffenpolitik bedeute nicht automatisch neue Atomtests. Diese könnten auch simuliert werden. Der wirtschaftspolitische Sprecher Jaswant Singh unterschied zwischen Partei und Regierung. Nicht alles, was die Partei fordere, könne eine Regierung durchsetzen. Auch dürfte der Brei nicht so heiß gegessen werden, wie er gekocht werde, da eine siegreiche BJP – wie erwartet wird – zur Regierungsbildung auf ihre regionalen Partner angewiesen wäre. Diese haben sich bereits von einigen Zielen der BJP distanziert. Doch warum fährt die BJP wieder einen relativ harten Hindutva-Kurs, nachdem sie bisher wie eine reformierte Kongreß- Partei tönte, die allen alles verspricht? Einige Kommentare führen dies auf den Eintritt Sonia Gandhis in den Wahlkampf zurück.

Die Taktik der BJP, die gebürtige Italienerin zu ignorieren, habe nur erreicht, daß die Witwe die Schlagzeilen beherrscht. Die Parteispitze setzte daher jetzt gegen die unliebsame „Ausländerin“ auf die nationalistische Karte.