■ Gunda Niemann-Stirnemann ist eine sehr, sehr erfolgreiche Eisschnelläuferin – und doch nicht so recht prominent
: Von Qualen keine Rede, nur von schwierigen Situationen

Im Vorraum zur Gaststätte des Inzeller Eisstadions strahlt Gunda Niemann-Stirnemann, jeden Tag, jede Nacht, sommers wie winters. Das Poster ist größer als die anderen Fotos von erfolgreichen Eisschnelläufern, die die schmutzigweiße Wand schmücken. „Bravo Gunda!“ steht dort zu lesen, als hätten sie in Inzell ein Zeichen setzen wollen, weil sie die Erfolgreichste der deutschen Eisschnellaufgemeinschaft ist. Ihr Stern strahlt heller als alle anderen – Gunda, Göttin der Ausdauer und Schnelligkeit. Möge ihr Geist über die Jugend kommen, damit sie Schlittschuhe zu ihrem ersten Sportgerät mache und eines Tages über blankes Eis jage wie das Vorbild der Vorbilder!

Gunda Niemann-Stirnemanns gutes Beispiel ist in Inzell immer gegenwärtig. Auch an einem Tag wie diesem, an dem sie nur Zuschauerin ist bei den Deutschen Meisterschaften, weil der Wettkampf nicht in ihre Trainingsplanung paßt. Überhaupt: Wie sollte ihr Ruhm je verblassen? Alle Weihen hat sie erreicht, die ihr Sport hergibt. Mehr noch: Wenn man sie am Ende glaubte – wie vor gut einem Jahr, als ihr die Holländerin Tonny de Jong auf neuen Klappschlittschuhen entfleuchte –, rappelte sie sich auf und zauberte doch wieder neue Titel hervor: Europameisterin, Weltmeisterin, Weltcupgewinnerin.

Als die Experten vor der laufenden Olympiasaison bange Blicke richteten auf ihre ersten Starts, weil sie sich nur schleppend hatte erholen können von einer Knieoperation im April, sauste sie in Heerenveen/Holland gleich zu neuem Weltrekord über 3.000 m. Ihr Wirken hat Symbolkraft. 1992 in Albertville wurde die Erfurterin die erste Olympiasiegerin des neuen Deutschland und schaffte damit den Auftakt zu einer Ära, die an Medaillenreichtum alles übertraf, was der Westen bisher gekannt hatte. Gunda Niemann-Stirnemann machte den anderen Ostdeutschen vor, wie man sich mit Mut und Fleiß Achtung im neuen System erkämpfen kann.

Die 31jährige ist fraglos eine der bedeutenderen Persönlichkeiten im deutschen Sport. Wer sie erstmals zum Interview trifft, fühlt sich vorher etwas beklommen: Wird man der Überlegenheit, die solche Frauen meist verströmen, wenigstens kluge Fragen entgegensetzen können?

Dabei kennt Niemann-Stirnemann gar nicht die erhabene Geste einer Athletenkönigin. Herzlich wirkt sie, unbekümmert, duzt einen umgehend, obwohl noch gar nicht ausgemacht ist, ob der Gegenüber nicht ein Mißgünstling ist. Fröhlich sprudeln die Erzählungen aus ihr heraus. Über ihre Vergangenheit in der DDR, über das, was ihr dort gefiel („das soziale System“) und was nicht: „Es hieß auf Auslandsreisen immer: Hör mal zu, Gunda, nicht alleine weggehen! Ich war ein sturer Bock, ich habe das nicht begreifen wollen.“

Macht auch keinen Hehl daraus, daß ihre Eltern und Geschwister nach der Wende arbeitslos wurden und sie sich trotzdem freute über die neue Freiheit. Oder wie sie nach ihrem Surfunfall im Herbst 1996 ihren Knorpelschaden im Knie zunächst unterschätzte: „Erst dachte man, es sei nur eine Bänderdehnung. Aber es wurde schlimmer. Bei der WM in Warschau hatte ich schon akute Schmerzen.“

Weltmeisterin ist sie damals trotzdem geworden, was bestens in das Bild paßte, das viele von ihr haben: das der unbeugsamen Gunda. Denn ist es nicht außergewöhnlich, mit wehem Gelenk der Konkurrenz enteilen zu können? Nein, antwortet Niemann-Stirnemann undramatisch: „Es hat mich ja nicht groß behindert; nur in bestimmten Bereichen auf dem Eis.“

Sie mag sich nicht zur Märtyrerin stilisieren lassen, ebensowenig als Medaillenmaschine abgestempelt werden. Auch, daß sie ihre Rivalinnen nicht ernst nehme, stimme nicht: „Da schätzt man mich falsch ein.“

Diese Dame ist nicht eitel. Bei einer Sponsoreneinladung steuerte sie einmal auf einen Tisch mit Journalisten zu und eröffnete das Gespräch mit dem Gruß: „Guten Tag, ich bin die Gunda“ – als müßte eine Frau von ihrer Prominenz sich noch vorstellen. Keinen Gedanken verschwendet sie daran, daß die zweite Prominente ihres Sports, Sprinterin Franziska Schenk, ihr wegen ihrer Schönheit und Redegewandtheit den Rang ablaufen könnte. Im Gegenteil, Niemann-Stirnemann freut sich über den Aufstieg der Vereinskollegin, weil er ihrer Sportart mehr Popularität einbrachte: „Ist doch schön.“ Sie, die Gunda aus Erfurt, eine Heldin? Sie lacht nur kurz auf und sagt: „Maßlos.“

Als gewöhnliche Sportlerin möchte sie gelten und legt wert auf die Feststellung, daß auch ihre Siege nicht selbstverständlich sind: „Es war immer ein harter Weg.“ An dessen Ende nicht immer goldener Lohn stand. In Lillehammer 1994 rannte sie im 3.000-m-Wettbewerb der Bestzeit entgegen, ehe sie über eine Begrenzungsmarke stolperte und alles verlor. Sie weinte damals herzzerreißend.

Auch das gehört zu Gunda Niemann- Stirnemann: Daß sie nicht verhehlen kann, wenn sie etwas berührt. So dankbar sie ist, daß die Medien sie mittlerweile beachten, so sensibel kann sie reagieren. Interviews hat sie Beleidigern schon verweigert: „Ich will nicht abgebrüht sein.“

Noch eine Frage gibt es, die Gunda Niemann-Stirnemann nicht gefällt: Warum quälst du dich? Früher, als sie noch unerfahren im Umgang mit der Öffentlichkeit war, hat diese Frage sie sogar verletzt. Heute versucht sie geduldig zu erklären, daß der Sport sie eben nicht quält. „Es gibt nur schwierige Situationen“, sagt sie. Spaß ist doch ihr eigentlicher Antrieb. „Ohne Spaß geht gar nichts.“ Mit Spaß ist sie damals, als die Mauer gefallen war, daran gegangen, ihren Trainern den Arbeitsplatz und Erfurt das Trainingszentrum zu sichern; Erfolge sollten als Argumente dienen. Und mit Spaß erfüllte sie ihre Mission: Die Trainer haben ihre Posten behalten, und Erfurts Eisschnelläufer haben mittlerweile eine 400-m-Bahn bekommen.

„Ich habe soviel erreicht“, sagt Gunda Niemann-Stirnemann. Ihr Ziel für Nagano? „Ich will mein Bestes geben.“ Ihr Bestes bedeutete meist Medaillen. Und dann? Wird sie weitermachen? Olympische Spiele in Salt Lake City? „Das lasse ich mir noch offen.“ Thomas Hahn