Wissenschaftsfeld Tourismus

■ Eine Tagung in der Evangelischen Akademie Loccum fragte nach einer „neuen Theorie des Tourismus“. Ein interessanter Austausch um Standpunkte und Zukunftsentwürfe

Es dürfte einmalig im Wissenschaftsbetrieb sein: Ein Intellektueller entwirft eine Theorie, und ohne daß er sie je persönlich zur Diskussion gestellt hätte, geistert sie seit dreißig Jahren durch die Diskussion. Und das, obwohl diese Theorie, strenggenommen, gar keine ist, sondern bloß eine nette kleine Fingerübung im Geiste der legendären Frankfurter Schule à la Horkheimer/Adorno. Auf 25 Schreibmaschinenseiten beleuchtete Hans Magnus Enzensberger im Jahre 1958 die historischen Umstände, unter denen Reisen zum Bedürfnis und Tourismus zur Industrie wurde, und schloß aus seiner Analyse, daß man das moderne Reisen als eine kollektive Fluchtbewegung bezeichnen kann.

Gerade jetzt, wo neue Tourismustheorien auf den Markt drängen, geisterte das Phantom Enzensberger wieder durch die Diskussion. Auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Loccum wurde es historisch eingeordnet, in seiner Dialektik gewürdigt, aber auch geschmäht und unter Ideologieverdacht gestellt. Wissenschaftler stellten in Loccum neue theoretische Entwürfe vor, sie diskutierten, ob die wissenschaftlichen Disziplinen eine Tourismustheorie überhaupt brauchen. Wenn ja, wie diese denn aussehen sollte. Wenn sich nach drei Tagen tagen eine Antwort darauf geben lassen soll, dann kann man wohl feststellen: Enzensbergers dialektischer Ansatz sollte dringend runderneuert und modernisiert werden.

Der neue Shooting-Star der Theorieszene, Christoph Hennig, wartete auf mit einer Theorie der „Reiselust“. Sie sympathisiert mit allen Formen des Genusses, die im Urlaub so möglich sind: Sinnlichkeit, wo sonst im Alltag nur Entsinnlichung herrscht, Swinging Life anstelle von Routine, vorzivilisatorische Zustände inmitten der Zivilisation. „Aus der Rolle des Touristen ergibt sich das Gefühl von Ganzheitlichkeit“, so Hennig, „Reisen heißt die sinnliche Erfahrung imaginärer Welten.“ Hennig machte den längst überfälligen Schwenk zur Bestimmung der verlockenden Inhalte des Reisens. Er entfaltete sie als Differenzerfahrung zwischen dem Alltag und dem Nichtalltäglichen und siedelt diese im „Wirklichkeitsbereich zwischen Alltag und reiner Phantasie“ an.

Nie erklärten Tourismustheoretiker bislang, was das Spannende am Verreisen ist – Hennig stöberte nun im vagen Feld der Triebkräfte. Und er bot eine verführerische Erklärung: die strukturelle Analogie zum klassischen „Fest“, besser: zur organisierten Regellosigkeit, wie sie sich bis ins Ungefähre der Vorzeit zurückverfolgen ließe. Im Unterschied zu Enzensberger, der die Triebkraft des modernen Reisens vor allem im Freiheitsbedürfnis des Bürgertums verortete, gründelt Hennig im Archaischen, Zeitlosen, im Überschwang von ritualisierter Regellosigkeit und exzessiver Festkultur. Dazu wurden aus der Ecke moderner Theoretiker Einwände laut. Sie erinnerten an die Formbarkeit von Bedürfnissen, an die künstliche Erzeugung von Reisewünschen, an Tourismusindustrie und Vermarktungsstrategien. In den Differenzräumen, in denen sich Touristen auslebten, da agierten viele Akteure, gab der Kulturwissenschaftler Dieter Kramer zu bedenken.

Moderne Theorien braucht der moderne Tourismus. Vielleicht sogar so hypermoderne wie die „Paradigmen“ der Tourismusspezialistin Felizitas Romeiß-Stracke. Leicht, locker aus der Hand geschüttelt beschreibt sie die Theorienlandschaft. Und spekuliert über das, was ihrer Meinung nach veraltet ist. Die „Fluchtthese“ etwa oder Tourismus als „gesellschaftlicher Reparaturbetrieb“. Ihr buntes Theorieangebot zur Erklärung des modernen Tourismus bot systemtheoretische, konstruktivistische und andere Ansätze zur freien Auswahl. Das evolutionäre Paradigma etwa vom Tourismus als „Innovationsreserve“ und „Experimentierfeld sozialen Wandels“ fand ausgesprochene Sympathien.

Aber Romeiß-Stracke wurde auch vorgehalten, daß Paradigmen keine Theorien sind, sondern Beispiele für sogenannte Kunsttheorien. Formell gesehen „Gemischtwarenläden“, so Hasso Spode, der die Anwesenden mit wissenschaftstheoretischer Correctness auf die einzelnen Stufen im Theoriebildungsprozeß getrimmt hatte. Kunsttheorien lieferten die Grundlage für gute Gebrauchsanweisungen, wie sie die Wirtschaft schätzt. Anders gesagt: Wer immer sich bedienen will, der findet bei Romeiß-Stracke die geeignete Grundlage für zukunftsgerechte Marktstrategien.

Und das sollte die hehre Theorie nun doch nicht anstreben. Oder doch? Die Ansprüche der unterschiedlichen Disziplinen an eine Theorie des Tourismus sind hoch. Und die Ansprüche der Praxis an die Wissenschaft sind es auch. Und eigentlich glaubten viele Diskutanten, daß das Instrumentarium der einzelnen Disziplinen ausreiche, um das Phänomen Tourismus zu behandeln.

Die abschließende Runde mit Vertretern aus Wirtschaft und Politik führte auf den harten Boden des Alltags zurück, dorthin, wo weder Unterschiede zwischen Kunst- und echten Theorien zählen oder zwischen wertneutralen und ethisch begründeten Ansätzen. Und auch kein Ideologievorwurf, wie ihn sich auch hier wieder einmal die tourismuskritische Seite anhören mußte. Halo Saibold etwa, die Vorsitzende des tourismuspolitischen Ausschusses für Fremdenverkehr, braucht eindeutig ethisch begründete Vorgaben, wenn das Programm vom „nachhaltigen“ Tourismus nicht im ökonomisch diktierten Geschäft untergehen soll; und TUI-Direktor Günter Ihlau will Theorie als den richtigen „Unterbau“ fürs Handeln.

Verdrehte Welt. Bislang wurde Theorie immer dem sogenannten „Überbau“ zugeordnet. Wenn die Praktiker auf den Plan treten, dann sieht es anders aus: Sie brauchen den wissenschaftlichen Service. Ihre Interessenlage ist klar, die der versammelten Wissenschaftler ging noch weit auseinander. Christel Burghoff