Wenn Bücher Bände sprechen

■ Sein Laden war ein unbezwingbares Literaturlabyrinth. Jetzt hat es sein Ende gefunden. Wendelin Niedlich, Stuttgarts legendärer Buchhändler und Literaturförderer, macht dicht

Das Ende ist bitter. Wendelin Niedlich, Stuttgarts berühmtester Buchhändler, muß seinen Laden schließen. Offiziell aus Altersgründen – im August vergangenen Jahres ist Niedlich 70 Jahre alt geworden. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Der republikweit bekannte Buchverkäufer und Literaturförderer hat mindestens eine halbe Million Mark Schulden angesammelt.

Das Aus kommt nicht unerwartet. Die Außenstände bei den Verlagen sind seit ein paar Jahren beinahe ebenso legendär wie die Buchhandlung selbst. Immer wieder hat Niedlich, der gebürtige Berliner, davon gesprochen aufzuhören. Jetzt ist es endgültig: „Mitte März ist Schluß.“

Warum? Nach einer Antwort muß man nicht lange suchen; der Buchladen spricht Bände. Seit 38 Jahren – so lange existiert der kleine Laden in Stuttgarts Schmaler Straße – weigert sich Niedlich hartnäckig, sein Geschäft nach betriebswirtschaftlichen Kategorien zu führen. Es hat sogar den Eindruck, er wollte gar nichts verkaufen, vielmehr aufbewahren, retten, vor dem, was da möglicherweise noch kommt. „Unter Böll gehe ich nicht“, lautet seine Maxime. Immer ist es ihm auf Qualität angekommen, auf anspruchsvolle Literatur. Bestseller? Kommen ihm nicht ins Haus. Seinen Literaturmaßstab hat er zum Maßstab überhaupt gemacht – und ist damit gescheitert. Ein Opfer der eigenen Leidenschaft, seiner Ansprüche, seiner Literaturbesessenheit, der Distanz, ja Abscheu vor allem Ökonomischen.

Anders als andere hat er selbst unverkäufliche Werke behalten, statt sie an die Verlage zurückgegeben. Werkausgaben von Robert Walser, Marx/Engels, Rosa Luxemburg, Gramscis „Gefängnishefte“, stapelweise Kritische Theorie, Hegel, Kant, Schopenhauer. Sein Laden ist eine Bücherhöhle, ein Literaturlabyrinth. Bücherstapel kreuz und quer in den Regalen, auf Tischen, auf dem Boden. Souverän ist, wer hier den Überblick behält. Purer Zufall, wer findet, was er sucht. Doch gerade das macht Niedlichs Buchladen einzigartig. Jetzt kommt der Ausverkauf.

Niedlich hat das schwer getroffen. Wenn er sich überhaupt äußert, dann sehr zurückhaltend. Aber: „Die Entscheidung ist getroffen.“ Wie er sich fühle? „Gefühle hat man nur einmal.“ Aus seinen Antworten spricht Bitterkeit. Seitdem bekannt ist, daß er schließen muß, ist sein Laden so voll wie lange nicht mehr. Neugierige, Nostalgiker, Schnäppchenjäger. Niedlich kommentiert den ungewohnten Ansturm auf seine Art: mit einem Plakat am Eingang. Darauf in großen Lettern: „Jetzt können Sie wieder alle auf einmal kommen.“

Um seine Schulden zu begleichen, muß er auch seine private Kunstsammlung verkaufen. 456 Radierungen, Lithographien und Bleistiftzeichnungen aus den 70er und 80er Jahren, Werke von Paul Wunderlich, Janosch, HAP Grieshaber. Ein Teil ist bereits unter den Hammer gekommen. Am vergangenen Wochenende luden Niedlichs Freunde im Großen Sitzzungssaal im Rathaus zur Auktion. Alt-OB Manfred Rommel und Ministerpräsident a.D. Lothar Späth schwangen, ohne großen Erfolg, den Hammer. Hinterher sagte Niedlich: „Ich kann überhaupt nicht zufrieden sein. Die Banken wollen so viel, das reicht nie.“

Dennoch ist es eine bemerkenswerte Solidaraktion. Niedlich ist kein Parteifreund, ganz im Gegenteil. Ein linker Ästhet, alter 68er, der auf die Barrikaden gegangen ist. Sein Schaufenster hat er stets als „Kampfmittel“ benutzt. Der Verfassungsschutz hat ihn observiert, in den sechziger Jahren. Woraufhin er ein Spruchband ins Schaufenster hängte: „Gegenüber stehen Posten.“ Ein anderes Transparent brachte ihm eine Klage ein: „Wer Strauß wählt, wählt Reaktion, Faschismus und Krieg.“ Das war während des Bundestagswahlkampfes 1980. Der Richter sprach ihn frei. Erst heute, das Ende vor Augen, wird deutlich, was er für die Stuttgarter Literaturszene, für die Literatur im Südwesten getan hat. In den 60er Jahren fing es an. Bei Niedlich kristallisiert sich die Stuttgarter Schule um Max Bense. Ludwig Harig, Helmut Heißenbüttel, Manfred Esser, Dieter Roth usw. tragen bei ihm ihre Konkrete Poesie vor. Das Publikum staunt. Niedlich holt die Wiener Gruppe in die Landeshauptstadt. Die Lesungen von Jandl, Rühm und Oswald Wiener ziehen Literaturfreunde magisch an. Stuttgart, heute drittgrößte Verlagsstadt, aber eine Stadt ohne Literaten, wird eine Zeitlang zu einem Zentrum moderner, experimenteller Literatur. Niedlich gründet seinen „Literarischen Salon“ im Kleinen Haus des Staatstheaters. Zuletzt kommen als Leseorte das Theater „Die Rampe“ und ein Kulturzentrum hinzu. Während der Theatervorführungen hat er seinen Buchstand aufgebaut. Die Bücher zu den Stücken, sozusagen.

Den Kiosk im Staatstheater will er einstweilen fortführen. Auch als Veranstalter von Lesungen bleibt er erhalten. Und er bleibt sich treu, trotz des Scheiterns. Auf der Schaufensterscheibe klebt ein Zitat von Brecht: „Unsere Niederlagen nämlich beweisen nichts...“ Wolfgang Hellmich