Die Zeit des Erinnerns ist nie vorbei

■ Mit 17 wurde er von der Gestapo wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt, mit 18 kam er ins Konzentrationslager. Heute feiert Fritz Bringmann seinen 80. Geburtstag

Um dem SS-Mann bei der Befehlsverweigerung in die Augen zu blicken, mußte Fritz Bringmann zwei Treppenstufen höher steigen. Dann sah der KZ-Häftling den Lagerarzt an und verkündete, er werde keine Gefangenen mit der Giftspritze umbringen. Die SS bedrohte ihn, schlug ihn zusammen – und war doch hilflos. Nie wieder befahl sie einem Gefangenen, andere zu Tode zu spritzen.

„Wissen Sie,“sagt Fritz Bringmann gut 50 Jahre später, während sein Bauch dem Tisch noch ein Stückchen näher rückt, „ich bin damals vielleicht ein bißchen heißblütig gewesen. Aber, wenn ich die Spritzen gegeben hätte, hätte ich mich damit selbst getötet.“Ruhig spricht der Mann, der heute seinen 80. Geburtstag feiert, doch die Daumen seiner gefalteten Hände umkreisen einander wie Funkenmariechen. Oft hat er seine Geschichte schon erzählt. So oft, daß die Erinnerung Routine geworden ist. Den Schrecken nimmt ihr das nicht.

Von seiner ersten Verhaftung berichtet Bringmann, während seine Frau Alice Kaffee in Zwiebelmuster-Tassen gießt. „Danke, Muttchen“, sagt er, und schwärmt von der „wundervollen Kameradin“, die er in seiner Frau hat. Aber zur Verhaftung: Damals war er 15 und wollte mit einem seiner Brüder antifaschistische Parolen auf eine Wand in Lübeck pinseln. Am 1. Mai 1934 war das. Den Haftbefehl hat Bringmann immer noch. Daß er wegen der Malaktion zweieinhalb Jahre lang in Jugendhaft kam, erzählt Fritz Bringmann knapp und hastig – eine Randbemerkung in einem Lebenslauf, der von Konzentrationslagern, Sterbenden und Schlägen erzählt.

Der damals 18jährige war kaum aus dem Jugendknast heraus, als ihn die Gestapo wieder einkassierte. Die Begründung: Vorbereitung zum Hochverrat. Bringmann kam ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Zwei seiner sieben Brüder saßen bereits im KZ Fuhlsbüttel, Bringmanns Vater wurde in Sippenhaft genommen, weil ein anderer Bruder nach Dänemark geflohen war. „Ich komme eben aus einer Arbeiterfamilie“, lächelt der heute 80jährige und löst seine Hände voneinander, um seine Brille hochzuschieben. „Aber zum Kommunisten hat mich erst der deutsche Faschismus gemacht.“

Der Faschismus brachte ihn nach Sachsenhausen, später nach Neuengamme. „Das war die bitterste Zeit in meinem Leben“, erklärt Bringmann. „Aber wissen Sie: Wir haben es auch nach dem Krieg nicht leicht gehabt.“Denn wie rappelt man sich auf, hineingeworfen in einen Trümmer-Alltag, in ein Zusammenleben mit Menschen, die nichts wissen vom Leben im KZ? Da waren die Weihnachtsfeste, die Fritz Bringmann nicht ertragen konnte. Weihnachten, das waren die Schreie sterbender Menschen, von der SS in Sachsenhausen an den Händen aufgehängt als Strafe für einen gescheiterten Fluchtversuch. Durch das ganze Lager gellten ihre Schmerzenslaute, und aus dem Barackenfenster blickte Bringmann auf einen Weihnachtsbaum, den die SS auf dem Exerzierplatz aufgestellt hatte. „Mittlerweile höre ich diese Schreie nicht mehr“, sagt Bringmann. „Aber die Zeit des Erinnerns ist für mich nicht vorbei.“

Sie dauert an, hinter dem Jägerzaun von Bringmanns Grundstück in dem schummerigen Arbeitszimmer. Hier hat er Kurz-Biographien seiner Eltern und Geschwister verfaßt. Die „Zusammenstellung erfolgte fast ausschließlich aus amtlichen Unterlagen“, hat er darunter notiert – die Arbeit eines Mannes, der gewohnt ist, seine Erzählungen zu beweisen. Wer als Zeuge gegen unzählige SS-Männer ausgesagt hat, weiß, daß Unbewiesenes kaum jemand glaubt.

Hinschauen, erzählen, erinnern: Sinnlich ist Bringmanns Umgang mit seinem Leben. An den Wänden des Eßzimmers baumeln Seemannsknoten hinter Glas, ein Modellschiff ist klar zum Ablegen. Erinnerungen „an ganz früher“, als Bringmann noch Seemann werden wollte. Doch das hat sein Vater ihm mit Besuch an der Mole ausgetrieben. Frostig war es da, mitten im Winter, und Eis lag wie eine Zwangsjacke auf den Schiffen. Nach diesem Abend wollte er doch lieber Klempner werden.

Er wäre Klempner geworden, wären da nicht die Nazis gewesen. Sie brachten ihn direkt aus der Lehrwerkstatt ins KZ, und nach seiner Befreiung 1945 konnte Bringmann nicht mehr handwerken. Sein linkes Auge ist blind, und er hat Gleichgewichtsstörungen – Folgen der nationalsozialistischen Folter. Statt dessen engagierte sich Bringmann für eine Gedenkstätte in Neuengamme. Seit 1970 ist er Generalsekretär der „Amicale Internationale de Neuengamme“.

Zweimal in dieser Zeit hat die Bundeswehr ihn eingeladen. Gern ist Bringmann hingegangen. Doch die Reaktion war enttäuschend: Keiner der Soldaten meldete sich zu Wort, die geplante Diskussion geriet zum Vortrag. Eine Frage des Themas, vermutet Bringmann: „Ich habe vielleicht zu stark betont, daß Soldaten nicht nur Befehle befolgen dürfen, sondern selbst Recht von Unrecht unterscheiden müssen.“Eine dritte Einladung gab es nie.

Die Heizung im Arbeitszimmer bullert, und Fritz Bringmann schließt das Fenster. Ein Rückzug ins Private? Wohl nicht. Das Erinnern geht weiter: „Ich habe viele gute Kameraden im Lager verloren. Und ich will nicht, daß die in Vergessenheit geraten.“

Judith Weber