Langsam zieht er seine Bahn

Gesichter der Großstadt: Kritiker werfen ihm „Ängstlichkeit“ vor, denn Arbeitslosenpräsident Klaus Grehn haßt Aggressivität. Doch hartnäckig spricht er für die Ausgestoßenen  ■ Von Hannes Koch

Die Demonstration der Arbeitslosen steht am Scheideweg. Klaus Grehn steht daneben. Über seinen Kopf hinweg fragt die selbsternannte autonome Demoleitung die 2.000 ProtestlerInnen: „Rotes Rathaus? Oder Hotel Adlon?“ – „Zum Rathaus“, schallt es vielstimmig zurück. Die Kolonne setzt sich wieder in Bewegung, während Klaus Grehn, der Präsident des Arbeitslosenverbandes Deutschland, noch mit einer Journalistin spricht.

Grehn war einer der Initiatoren des ersten bundesweiten Protesttages der Arbeitslosen am vergangenen Donnerstag. „Ich bin kein Politiker, ich habe zu wenig Charisma“, sagt der oberste Arbeitslose der Republik. Stimmt nicht ganz: Es gab schon Demonstrationen, bei denen Grehn mit Parolen wie „Wer Kohl säht, wird Sturm ernten“ die Massenstimmung deutlich besser traf als die angereiste Westschickeria der Gewerkschafts- und SPD-Führer – so geschehen bei einer Leipziger Montagsdemonstration im Frühjahr 1991. Auch bei vielen Fernsehsendern geht der grauhaarige Endfünfziger mit dem Soziologen- Schnauzer als Stammgast ein und aus – was aber auch daran liegt, daß er als erster Chef des 1990 noch in der DDR gegründeten Arbeitslosenverbandes die einzige bundesweit hörbare, legitime Stimme der Ausgestoßenen ist.

Bei der Demonstration am Donnerstag hat Grehn „Bauchschmerzen“. In die Kamera des französischen Fernsehens übermittelt er den ArbeitsamtsbesetzerInnen des Nachbarlandes die „Solidarität der bundesdeutschen Arbeitslosen“, doch eigentlich ist ihm jegliche Militanz zuwider. Er befürchtet, daß der Protest aus dem Ruder läuft und der Bundesregierung einen Vorwand liefert, ihn als „kriminellen“ Akt zu denunzieren. Penibel sucht er die Gefahr zu vermeiden, daß irgendwer eine Anzeige der Polizei kassiert. Politik- Professor Peter Grottian, der zur gleichen Zeit mit einem Miet-Lkw das Brandenburger Tor blockiert, wirft Grehn deshalb „Ängstlichkeit“ vor. Für den geht es jedoch darum, die Arbeitslosen überhaupt zum ersten Schritt aus ihren Wohnungen zu bewegen. „Die Aktionen“, beschwichtigt er, „werden noch heftiger.“

„Die zunehmende Aggressivität und Brutalität“ vertrieben den Funktionär der Underdogs 1995 aus Berlin. Seitdem lebt er im Lausitz-Städtchen Senftenberg, wo seine Frau ihre Anwaltskanzlei betreibt. Einmal habe er einen Autofahrer auf die eiernden Räder seines Wagens aufmerksam gemacht und sich statt eines Dankes üble Beschimpfungen und unflätige Gesten eingehandelt. An der neuen Hauptstadt des vereinigten Deutschland stört ihn auch, daß sie rigoros zum Schaden ihrer BewohnerInnen „umprofiliert wird“.

Grehn teilt das Schicksal derjenigen, die er vertritt – zumindestens teilweise. Ab März meldet sich der hauptamtliche Präsident wieder arbeitslos, denn der Verband mit seinen 10.000 Mitgliedern vor allem in Ostdeutschland hat kaum Geld. Das wenige soll in die Beratungsstellen im ganzen Land fließen. Dann lebt Grehn von den Einnahmen seiner Frau und hat Zeit, so hofft er, sich der dringend notwendigen Bypass-Operation zu unterziehen. Einen Herzinfarkt holte er sich noch zu DDR-Zeiten – Ergebnis eines mitunter widerständigen Lebens im Realsozialismus.

Freunde hatten ihm geraten, seine Habilitationsschrift nicht an der Humboldt-Uni einzureichen. „Doch ich wollte mit dem Kopf durch die Wand“, sinniert der promovierte Sozialwissenschaftler. Die akademische Karriere sollte ihren Höhepunkt dort erreichen, wo sie begonnen hatte. Trotz positiver Gutachten lehnte die Uni die Habilitation nach der mündlichen Disputation ab – in den Augen Grehns eine Folge seiner Vergangenheit und Anlaß für die Herzerkrankung.

Er sei beileibe kein „Widerstandskämpfer“ gewesen. Er habe aber hin und wieder „gegen den Stachel gelöckt“. 1962, kurz nach dem Mauerbau, löste der damalige Student der Veterinärmedizin an der Humboldt-Uni im Seminar eine dem Professor äußerst unangenehme Diskussion über die zunehmend schlechte Versorgungslage aus, weil er sich provokativ für seine Verspätung damit entschuldigte, daß er um Äpfel angestanden habe. Es folgten der Verweis von der Hochschule und die Bewährung in der Produktion beim Kabelwerk Oberspree. Ähnliche Karriereknicke sollten sich häufen.

Nach dem Fernstudium der Philosophie und Soziologie an der Humboldt-Uni forschte Grehn schließlich an der Hochschule des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes in Bernau über Rationalisierung und die Umsetzung der davon betroffenen Beschäftigten an andere Arbeitsplätze. 1990 wurde die Hochschule abgewickelt – und der Soziologe mit ihr. Mit der Gründung des Arbeitslosenverbandes fand er schließlich zu seiner Bestimmung als Lobbyist, der langsam, aber hartnäckig seine Bahn zieht. „Ich bin stur“, weiß Klaus Grehn – wie der Stier, das Wappentier Mecklenburgs, wo er 1940 an der Ostsee geboren wurde.