Die BJP greift nach der Macht in Indien

Im Bundesstaat Tamil Nadu will die radikale nationalistische Hindu-Partei den Süden des Landes knacken und bei den bevorstehenden Parlamentswahlen die ihr bisher fehlenden Stimmen gewinnen  ■ Aus Coimbatore Bernard Imhasly

In den Straßen der südindischen Stadt Coimbatore springen als erstes die Filmplakate ins Auge – und das, obwohl in der bevölkerungsreichsten Demokratie der Welt ab Mitte Februar ein neues Parlament gewählt wird. Die Geländer entlang der Brücken, die Grundstücksmauern, ganze Häuserfassaden sind übersät von Postern, auf denen die Gesichter der Stars, Titel in riesigen Lettern und Katastrophenbilder um die Aufmerksamkeit des Betrachters wetteifern.

Doch der erste Eindruck trügt. Zwischen Bösewichtern und Engelsgesichtern kann man auch die herausfordernden Blicke der Kämpfer fürs Gemeinwohl ausmachen, und in dem Chaos von Farben und Schriftzügen sind auch die Slogans und Parolen der Parteien zu erkennen. Schließlich sind die Plakatmaler für beide Kunden tätig. Und im film- und politikbesessenen südindischen Bundesstaat Tamil Nadu gibt es ohnehin beinahe eine Personalunion zwischen beiden Geschäftsbereichen.

Jayalalitha, die ehemalige Chefministerin von Tamil Nadu, war Filmschauspielerin und Partnerin des legendären Filmhelden M. G. Ramachandran. Dessen Initialen MGR sind in Tamil Nadu mindestens ebenso geläufig wie das Hollywood-Kürzel MGM. Ihr Amtsnachfolger, der MGR-Rivale Karunanidhi, war als Dialogschreiber für Tamil-Streifen so erfolgreich, daß er bald nur noch für seine eigene Produktionsfirma Skripte verfaßte.

Karunanidhi wirbt an diesem Abend in Coimbatore für den Kandidaten seiner Partei DMK, die in Tamil Nadu die Regierung stellt. Die Wahlveranstaltung findet an der Kreuzung von zwei großen Einkaufsstraßen statt, deren Sari-Geschäfte und Juwelierläden den Reichtum zur Schau tragen, den die Stadt in den letzten Jahrzehnten erworben hat. Das Podium von drei Straßen aus weithin sichtbar. Etwa 12.000 Leute haben sich ungeniert auf den Asphalt niedergelassen, brav in Reih und Glied, als säßen sie im Kino.

Die Vorredner sitzen bereits auf dem Podium, als Karunanidhi eintrifft. Zu den Männern in traditionellen weißen Lendentüchern gehört auch der „Bezirksvorsitzende des Fanclubs von Superstar Rajnikanth“, dessen Elvis-Frisur eine Reverenz an den erfolgreichsten Darsteller des südindischen Kinos ist. Alle wissen, daß Rajnikanths Unterstützung wahlentscheidend sein kann. Der Sturz von Jayalalitha vor zwei Jahren ging nicht zuletzt auf seine Kritik an ihrer Person zurück.

Viele Südinder verabscheuen die BJP

Auch Karunanidhi erweist dem Fanklub seine Reverenz, bevor der 73jährige, das Gesicht ausdruckslos hinter seinem Markenzeichen, der schwarzen Brille versteckt, zur Schelte an Jayalalitha ansetzt. Er warnt das Publikum vor der gefährlichen Wahlallianz zwischen ihrer Partei AIADMK und der hindu-nationalistischen BJP, deren haßerfüllte Propaganda damit in Tamil Nadu zu Gehör komme. Es ist das erste Mal, daß sich eine der beiden großen Tamilenparteien mit der BJP verbündet hat, die für viele Südinder für alles steht, was sie verabscheuen: die politische Dominanz des Nordens, den kulturellen Chauvinismus der Brahmanen, die Hindi zu Lasten der Regionalsprachen zur Nationalsprache (neben Englisch) gemacht haben.

Die BJP, die bei den letzten Wahlen vor zwei Jahren die stärkste Fraktion im Parlament stellte, gebe sich zwar allindisch, offen für alle Kasten, Regionen und Religionen, sagt Karunanidhi. Sie verspreche auch Stabilität und ein sauberes Regieren. Aber gerade darin beweise sich ihre Heuchelei, denn sie verbinde sich „mit dieser korrupten Frau, die mit einem Monatslohn von einer Rupie in fünf Jahren ein Bankkonto von 640 Millionen gefüllt hat“.

Die Wahlallianz mit Jayalalitha und der AIADMK läßt die BJP hoffen, endlich auch in Südindien den Durchbruch zu schaffen, und damit die Stimmen zu gewinnen, die ihr in Delhi bisher für eine Mehrheit im Parlament fehlten. In Tamil Nadu gibt sie sich noch bescheiden und kämpft nur um fünf Sitze, und jenen von Coimbatore „haben wir schon in der Tasche“, so Sri Bhupathy von der BJP.

Auf die Frage nach dem Grund für diese Gewißheit hat er eine eindeutige Antwort: „Die Leute von Coimbatore wollen Ruhe und Frieden.“ Sein Mitarbeiter Vasudevan wird noch deutlicher: „Seit den jüngsten Ereignissen sind unsere Chancen für einen Sieg auf 85 Prozent gestiegen.“ Für eine Partei, die bei den Wahlen von 1996 in der 1,5 Millionenstadt gerade 25.000 Stimmen erhielt, müssen diese Ereignisse recht einschneidend gewesen sein.

Im Büro der BJP, einer Holzhütte im Garten eines Einfamilienhauses, rasselt ein BJP-Anhänger zur Begründung eine Statistik herunter: „Am 30. Januar starben fünf Menschen bei Ausschreitungen, im September acht, und im Dezember waren es 21.“ – „Die Leute haben genug“, fügt BJP-Pressechef S. R. Shekhar hinzu.

Es ist tatsächlich ein merkwürdiges Zusammentreffen von religiösem Konflikt und steigenden Wahlchancen für die Hindu-Nationalisten der BJP. Coimbatore ist die erfolgreichste Metropole Südindiens. Sie hat die Stufen wirtschaftlicher Entwicklung erfolgreich genommen – vom kleinen Zentrum einer Baumwollregion zu den Spinnereien, von da zur Bekleidungsindustrie und schließlich zur Herstellung und dem Export von Textilmaschinen. Die Textilfabriken von Coimbatore und dem nahen Tiruppur verarbeiten inzwischen 36 Prozent der in Indien produzierten Baumwolle. Das rapide Bevölkerungswachstum speist sich aus Zuwanderern aus ganz Indien, und so kommt es, sagt der Präsident der Börse, D. Balasundaram, daß es in Coimbatore „nur Minderheiten gibt. Und dies sollte doch eine Garantie sein für religiöse Harmonie.“ Bis vor kurzem war das auch so.

Spannungen zwischen Hindus und Muslimen

Doch im November letzten Jahres erstachen Jugendliche Muslime, Mitglieder der Selbsthilfeorganisation „al-Ummah“, einen Polizisten, weil sie wegen eines Verkehrsvergehens bestraft worden waren. Anderntags legten Hunderte von Polizisten ihre Arbeit nieder und gingen auf die Straße. In der Altstadt wurden Geschäfte von Muslimen mit Steinen beworfen, ausgeraubt und angezündet. Als die Besitzer ihr Hab und Gut verteidigen wollten, wurden sie von Polizeikugeln vertrieben. Achtzehn Menschen starben, die meisten an Schußverletzungen. Coimbatore kam zum Stillstand. BJP-Pressesprecher Shekhar wurde in den Zeitungen mit den Worten zitiert, die Plünderer stammten meist aus den untersten Klassen, weil „Dalits (Unberrührbare) von Natur aus mutig sind. Sie fühlen, daß Muslime ihre Grenzen überschritten, und haben ihnen eine Lektion erteilt.“

Über die Hintergründe der Unruhen hört man unterschiedliche Versionen. Zweifellos gibt es Spannungen zwischen Polizei und Muslimen, nicht weil die meisten Polizisten Hindus sind, sondern weil, wie der (neue) Polizeichef der Stadt, N. Kumaran, erklärt „der Muslim auf der soziökonomischen Leiter zuunterst steht und im engen Raum der Altstadt lebt, wo Friktionen häufiger sind“. Der Bildungsmangel erkläre die geringe Vertretung der Muslime im Polizeikader.

Solche soziologischen Ansätze liegen der BJP fern. Sie wittert ein Komplott: al-Ummah sei in Wahrheit ein terroristischer Verband, der von Pakistan finanziert werde. Die Unruhen hätten sich eine Woche vor dem fünften Jahrestag der Zerstörung der Babar-Moschee in Ayodhya am 6. Dezember ereignet, für den al-Ummah zu Protesten aufgerufen habe. Was der BJP-Mann Shekhar unterschlägt: Eine Hindu-Gruppe hatte den Muslimen vor dem Jahrestag einen Poster-Krieg geliefert und hatte eine Gegenveranstaltung angekündigt, auf der die Zerstörung der Moschee als „Tag der Wiederherstellung des nationalen Stolzes“ gefeiert werden sollte.

Jaffer Ali, Sekretär der muslimischen Hilfsorganisation TNMMK, hält es dagegen für erwiesen, daß die Unruhen Teil eines Plans der Hindus sind, an die Macht zu kommen und die Minderheit zu knebeln. Für ihn gibt es die al-Ummah nur deshalb, weil die Polizei arbeitslose Jugendliche unter dem Antiterrorgesetz ohne Grund eingelocht hat: „Es ist das Gefängnis, wo sie radikal geworden sind.“ Die TNMMK hat die Losung ausgegeben, die Wahl zu boykottieren, weil der DMK-Chefminister Karunanidhi den Muslimen keinen Schutz gebracht habe.

Würde es der BJP nicht helfen, wenn plötzlich dreizehn Prozent der muslimischen Stimmen wegfielen? „Wenn schon“, sagt Ali scharf, „lieber den offenen Feind als den falschen Freund.“ Eine Aussage, die die muslimische Geschäftswelt erschreckt. „Wie kann der das sagen?“ meint der Unternehmer Jaffer Ali über seinen Namensvetter. Er gehört zu denen, die am meisten von den Unruhen betroffen wurden. Seine Familie ist, wie er stolz meint, Besitzerin des „größten Textilgeschäfts in Südindien“. Es wurde bereits am ersten Tag eingeäschert, und noch heute wirkt die abgebrannte Ruine mitten im engbebauten Basar wie eine riesige Zahnlücke.

Der Unternehmer Ali kritisiert ebenfalls die Regierungspartei DMK, auch wenn er hinter ihr steht. „Die Gemeinschaften müssen zusammenleben, sie haben gar keine Wahl“, sagt er und weist auf die leeren Büroräume um ihn herum. „Achtzig Prozent unseres Personals waren Hindus, und viele mußten wir entlassen.“

Auch der Präsident der städtischen Börse meint, daß die Geschäftswelt hinter der DMK steht. Aber ob die Bevölkerung wieder einen DMK-Kandidaten nach Delhi schicken wird? Balasundaram ist skeptisch. „Wissen Sie, die Leute waren richtig zornig auf Karunanidhi. Beinahe eine Woche lang keine Busse, kein Unterricht, alles war zu. Und was besonders schlimm war: Auch die Kinos waren geschlossen.“