Streit um Rolle der Ost-SPD in der DDR

Die SPD formuliert ihr Grundsatzprogramm neu. Darin schreibt sie sich die führende Rolle beim Untergang der DDR im Herbst 1989 zu. Bürgerrechtler sprechen von „Geschichtsklitterung“ und „Selbstgefälligkeit“  ■ Aus Berlin Dieter Rulff

Acht Jahre lang mußten die ostdeutschen Sozialdemokraten damit leben, daß sie im Grundsatzprogramm ihrer Partei keine Rolle spielen. Der Mangel wird nun behoben. Auf dem Bundesparteitag im April soll das im Dezember 1989 beschlossene Berliner Programm um einen Passus ergänzt werden, in dem die SPD in der DDR gewürdigt wird.

Künftig müssen die Bürgerrechtler der DDR damit leben, daß die Sozialdemokraten bei der friedlichen Revolution von 1989 die entscheidende Rolle spielten. Denn die Arbeitsgruppe, die unter Leitung des stellvertretenden Parteivorsitzenden Wolfgang Thierse die Programmergänzung erarbeitet hat, ist zu der Erkenntnis gekommen, daß „die ostdeutschen Sozialdemokraten mit der Neugründung der Partei am 7.10. 1989 das entschiedenste Zeichen innerhalb der revolutionären Bewegung in der DDR (setzten), den SED- Staat von innen heraus zu überwinden“.

Diese Interpretation stößt auf Widerspruch. Namhafte Bürgerrechtler halten der SPD Geschichtsklitterung vor. Was Thierse und Co. da behaupten, meint Konrad Wolf, entspreche nicht dem Ablauf des Herbstes 1989. Wolf, der seinerzeit für die Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“ am Runden Tisch der Modrow-Regierung saß, sieht das entscheidende Zeichen für den Umbruch in der Gründung des Neuen Forums. Alle anderen Bewegungen hätten nicht die Breite gehabt wie dieser Aufruf. Das Neue Forum war die erste Gruppierung, die im September 1989 öffentlich in Erscheinung trat. Ihr schlossen sich weit über 100.000 DDR- Bürger an.

Auch der heutige Europaabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, Wolfgang Ullmann, in der Modrow-Regierung für die Bürgerbewegung Minister ohne Geschäftsbereich, erkennt in der damaligen SDP „nur eine von zahlreichen Initiativen“. Die öffentlich wirksamste sei das Neue Forum gewesen. Gegen eine herausragende Rolle der SDP spreche schon die damals verbreiteten Vorbehalte gegenüber Parteien.

Demgegenüber verweist Stefan Hilsberg, Ost-SPDler der ersten Stunde und Bundestagsabgeordneter, darauf, daß es bereits im Frühjahr 1989 erste Initiativen zur Gründung einer SDP gegeben habe. Mit der Forderung nach einer ökologischen Marktwirtschaft und einem demokratischen Rechtsstaat sei die SED am heftigsten in Frage gestellt worden. Diese „sah uns als den schärfsten Gegner an“, wohingegen sie das Neue Forum womöglich in eine erweiterte Nationale Front eingegliedert hätte, meint Hilsberg.

Eine solche Rollenzuweisung ist nach Ansicht von Reinhard Weißhuhn eine Anmaßung. Weißhuhn, der damals in der Initiative für Frieden und Menschenrechte aktiv war, findet den verspäteten Führungsanspruch schlicht „albern“ und verweist darauf, daß sich die SPD seinerzeit „um nichts gekümmert hat, schon gar nicht um die SDP“.

Auf die zwiespältige Haltung, welche die West-Sozialdemokratie gegenüber ihren Ost-Genossen eingenommen hat, verweist auch der Historiker Armin Mitter, der über die Wendezeit geforscht und publiziert hat. Die West-SPD habe die SDP „überhaupt nicht ernstgenommen“. So habe der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, noch im Oktober 1989 davon gesprochen, daß die SED ihre führende Rolle behalten werde. Mit einer solchen Neuformulierung des Programms würden „vehemente Widersprüche innerhalb der Sozialdemokratie schöngeredet“. Auch sei die Positionsbeschreibung gegenüber der Bürgerbewegung „selbstgefällig“.

Auch eine zweite zentrale Formulierung, die in das Grundsatzprogramm aufgenommen werden soll, stößt auf den Widerspruch des Historikers. Im Entwurf, den der SPD-Bundesvorstand bereits in einer ersten Lesung billigend zur Kenntnis genommen hat, steht: „Mit ihrer Politik der Entspannung und der kleinen Schritte zur Durchlöcherung der Mauer haben die SPD und die von ihr geführten Bundesregierungen viel zur Delegitimierung des SED-Staates und zur Erweiterung der inneren Freiheitsspielräume in der DDR beigetragen.“ Zwar sieht Mitter durchaus die positiven Seiten der Entspannungspolitik, doch sei es „anmaßend“, noch nicht einmal deren Ambivalenzen darzustellen. So habe sie auch eine „Aufwertung der SED gebracht“, gleichzeitig sei die Haltung der SPD zur Opposition ablehnend gewesen. Es habe selbst im November 1989 noch keine klare Delegitimierung der SED gegeben. Auch Weiß will diesen Satz des SPD-Programms so nicht stehen lassen. Die SPD habe auch zur Erhaltung des SED-Regimes beigetragen. Der Bürgerrechtler Wolfgang Templin, der 1988 zwangsweise ausgebürgert worden war, hat die SPD-Politik „als DDR-erhaltend und uns bremsend und blockierend erlebt“.

In diesem Punkt ist Hilsberg mit den Bürgerrechtlern einer Meinung. Er sieht es als Fehler an, daß die SPD bei der SED „eine reformerische Kraft vermutete, die es nicht gab“. Deshalb habe sie sich auf die SED-Spitze konzentriert und die Bürgerbewegung links liegengelassen. Hilsbergs ostdeutschen Parteifreunden bleibt noch bis zum 16. März Zeit, dieses Geschichtsbild zu korrigieren. Dann will der Bundesvorstand die Programmergänzungen abschließend beraten und dem Bundesparteitag zur Abstimmung vorlegen.