Fremdsprachen

■ Das „ensemble recherche“bettet Kurtág „spielend“in musikgeschichtlichen Kontext

Der Ungar György Kurtág, geboren 1926, erschließt sich größere Formen nicht mehr durch das Prinzip der Entwicklung, diesem geduldigen Ausbrüten von ein, zwei, drei Themen bis zur Schlußreife. Vielmehr ist die Addition sein Gestaltungsprinzip – und war es schon vor der Popularisierung postmodernen Stilpuzzles. Dabei kennt sein Stückelwerk unterschiedliche Anschlußargumente: Ähnlicheit, Kontrast, Variation. Schließlich konstruiert auch mein Neffe Maximilian (vier Jahre) seine Häuser das eine Mal nur aus roten, dreieckigen Klötzen, das andere Mal mit all den Wundern, die der Baukasten hergibt. Elaborierte Kunst als Aufgreifen kindlicher Entdeckungslust; eine Strategie, die Kurtág ganz direkt in seinen „Játékok“(Spiele) verfolgte. Bei diesen Klavierminiaturen funktioniert das neugierige kindliche Patschhändchen auf den Klaviertasten als Ideengeber.

Das Additionsprinzip kommt auf verschiedenen Ebenen zum Einsatz. Aus der Summe einzelner Gesten werden kleine Stücke. „Die kleinen Formen von früher (werden) jetzt bei meinen späteren Werken in einen größeren Zusammenhang integriert.“Und bei den Salzburger Festspielen 1993 bastelte er aus diesen größeren Zusammenhängen „ein komponiertes Konzert“. Die Selbstähnlichkeit des fraktalen Apfelmännchens läßt grüßen. Die Bestandteile der übergeordneten Einheit sollen mit ihren „unterschiedlichen Gemeinsamkeiten wie vielerlei Gebäude am selben Platz durchaus eine harmonische Korrespondenz-Wirkung entfalten.“Man darf sich sicher keinen Potsdamer Platz protzig-gemeiner Gemeinsamkeiten vorstellen, sondern eher ein lockeres Gefüge aus Dom und Würstchenbude wie auf dem Bremer Marktplatz. Denn Bescheidenheit und „Transparenz“sind Kennzeichen Kurtágs. Einstimmige Passagen zaubern das Hörgefühl eines Schlaflosen herbei: Jedes Geräusch gewinnt in nächtlicher Stille unwiderstehliche Präsenz.

Auch das „ensemble recherche“versuchte sich in der Galerie Katrin Rabus an einem durchkomponierten Konzertprogramm. Es stellte Kurtag in den Kontext anderer Miniaturenmeister und Bearbeitungsberserker. Gespielt wurden einige „short cuts“mit der Prägnanz von Raymond Carver-Prosa, von Anton Webern und Béla Bartók und eine Schönberg-Transkription von einem gewissen Eduard Steuermann. Das Knüpfen eines musikalischen Beziehungsrahmens ist hier keine Vergewaltigung eines Originalgenies. Es geschieht mit Kurtágs heimlich-stillem Einverständnis. Schließlich gibt es von dem kaum ein Stück, das nicht die Anlehnung sucht: an gute Bekannte, an Literatur, an eigene Stücke will heißen, die eigene Vergangenheit oder an Stücke von toten und lebenden Kollegen. Nichts entsteht aus dem Nichts. Alles hat eine Vorgeschichte. Kunst ist hier das Spiegeln von Anregungen. Die Künstlerpersönlichkeit definiert nicht viel mehr als den Brechungswinkel der Spiegelung. „Meine Muttersprache ist Bartók und Bartóks Muttersprache war Beethoven“, zitiert ihn Hartmut Lück, der dem Publikum vor dem Konzert eine kurze Einführung in den alles mit jedem vernetzenden Klangkosmos Kurtágs gönnt. Kunst als Gespräch mit den Ahnen statt Monologisieren im eigenen Idiom. In den „Spielen für Streicher“beweist Kurtág einen kreativen Blick für das Unwesentliche. Eine Hommage an Bach etwa philosophiert nicht über Essentials wie Fugentechnik, sondern über Bachs Konstruktion von Sechzehntelketten aus kleinen, nur leicht variierenden Modulen – und nähert sich dabei erstaunlicherweise der amerikanischen Minimal music. „Ligaturen“lassen dem Hörer Zeit. Ein Mollakkord, dann ein Durackord drängen nicht wie gewohnt funktionsharmonisch weiter, sondern laden zum Verweilen ein. Unentwirrbare Stimmenballungen bleiben Ausnahme. Lieber läßt uns Kurtág pppp-Tönen erlauschen, als hinge man an einer verschlossenen Tür zu wunderbaren Räumen.

Barbara Kern