Die Untersuchungshaft ersetzt eine pädagogische Betreuung

Ein fünfzehnjähriger straffälliger Flüchtling mußte knapp drei Monate in U-Haft verbringen. Nur ein Drittel der minderjährigen Flüchtlinge wohnt in betreuten Heimen  ■ Von Marina Mai

Einen solchen Fall hat Traudel Vorbrodt von der Härtefallberatung für Flüchtlinge „Pax Christi“ noch nie erlebt: Der 15jährige Kurde M., der als Asylsuchender ohne Eltern in Berlin lebt, war von einem Schöffengericht zu einer Bewährungstrafe von 18 Monaten verurteilt worden, weil er mit Rauschgift angetroffen wurde. Die knapp drei Monate bis zur Verurteilung hatte der Junge in Untersuchungshaft verbringen müssen.

Traudel Vorbrodt weiß, daß ein 15jähriger Junge strafmündig ist. „Aber eine Untersuchungshaft und eine solch lange Bewährungsstrafe wird doch bei Jugendlichen nur im äußersten Notfall verhängt. In diesem Alter soll die Strafe hinter der Erziehung zurücktreten.“ Anzeichen für eine solche Ausnahmesituation kann die Flüchtlingsberaterin nicht erkennen. Der Junge hatte ihr erzählt, Landsleute, die vor dem Wohnheim standen, hätten ihm die Drogen zum Verkauf angeboten. M. sei froh über die Einnahmequelle gewesen.

„Im Gerichtsurteil steht, daß M. erstmals straffällig wurde und geständig war“, erklärt Vorbrodt. Das Jugendamt, das bei der Unterbringung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge Geld sparen will, hatte M. einen Platz in einem Jugendwohnheim mit pädagogischem Personal verweigert und seiner Unterbringung in einer Läusepension zugestimmt. Dort sei ein Jugendlicher dann sich selbst überlassen.

„Durch die Untersuchungshaft wurde der Junge, der kaum deutsch spricht, einfach weggesperrt“, empört sich die Flüchtlingsberaterin. Niemand habe ihn in der Haft besucht, um pädagogisch auf ihn einzuwirken oder ihm Beistand zu geben. „Ich vermute, daß weder dem Heimpersonal noch dem Vormund, der M. in ein Heim ohne pädagogische Betreuung steckte, aufgefallen ist, daß ein Junge drei Monate lang weg war.“ Der bündnisgrüne Abgeordnete Norbert Schellberg fordert nun Auskunft von der Landesregierung, ob der Vormund von Polizei oder Justiz überhaupt darüber informiert wurde, daß einer seiner Mündel in U-Haft saß. „Dazu wären die Ermittlungsbehörden verpflichtet gewesen. Dann wiederum hätte der Vormund seine Pflichten grob verletzt, wenn er weder das Gespräch mit dem Häftling suchte noch Haftbeschwerde einlegte.“

Justizsprecherin Michaela Blume erklärt dazu, daß bei minderjährigen Untersuchungshäftlingen grundsätzlich eine Bezugsperson informiert wird. „Aber wir können nicht in jedem Fall Bezugspersonen in Berlin ausfindig machen und informieren dann die Eltern im Ausland.“ Daß die gar keine Chance hätten, sich um den Sohn zu kümmern, sei „erst einmal zweitrangig. Aber sie wissen dann Bescheid, wo der Sohn ist.“ Das reicht Traudel Vorbrodt nicht aus. „Nach Völkerrecht muß die Jugendhilfe für minderjährige Flüchtlinge sorgen. Das gilt auch, wenn sie straffällig werden.“

Doch bei der Jugendhilfe wurde in den letzten Jahren systematisch eingespart. Nach Senatsangaben vom Januar 1997 haben von 2.076 Flüchtlingskindern und Jugendlichen, für deren Unterbringung die Bezirke zuständig sind, nur 670 das Glück, in einem betreuten Heim zu wohnen. Die übrigen wohnen entweder bei Verwandten, oder aber sie kommen in Flüchtlingsunterkünften und Läusepensionen neben erwachsenen Asylsuchenden zumeist unter die Räder. Ein Antrag der Bündnisgrünen, allen minderjährigen Flüchtlingen einen betreuten Platz anzubieten, wird seit mehr als einem Jahr im Abgeordnetenhaus von Ausschuß zu Ausschuß weitergereicht. Der bündnisgrüne Abgeordnete Riza Baran, der ihn einst einbrachte, erklärt: „Das Parlament brauchte unserem Antrag nur zuzustimmen, und viele Jugendliche wären vor dem kriminellen Milieu geschützt.“ Barans Kollege Norbert Schellberg hält die Diskussion um geschlossene Heime für straffällige Kinder für ein Scheingefecht, solange die Kinder und Jugendlichen nicht einmal in pädagogisch betreuten Heimen wohnen.

Doch der Parlamentsantrag ist nicht unumstritten. Treptows Jugendstadtrat Joachim Stahr (CDU), der im Jugendausschuß als Sachverständiger geladen war, erklärte den Zwang zur teuren Unterbringung für unsinnig. Viele Jugendliche würden freiwillig auf einen Jugendwohnheimplatz zugunsten eines Platzes in einem unbetreuten Heim verzichten, weil es im Jugendwohnheim weniger Taschengeld gäbe. Das lasse sich sein Amt von den Jugendlichen sogar schriftlich geben. „Die Vormünder haben keine Möglichkeit, gegen den Willen der Betroffenen zu entscheiden.“ Dem halten die Bündnisgrünen entgegen, daß allein der Vormund den Aufenthalt seiner Mündel bestimmen darf.

Für Schellberg und Baran ist das Abrutschen einiger junger Flüchtlinge in die Kriminalität ein Ergebnis der verfehlten Senatspolitik. Die Landesregierung habe in den letzten Jahren daran gearbeitet, die ungebetenen teuren Gäste so schnell wie möglich wieder loszuwerden und bei ihrer Unterbringung Geld zu sparen.

M. erhielt nach Verbüßen der Untersuchungshaft eine Ausweisung, die gesetzlich nicht nötig gewesen wäre. Die Ausländerbehörde kann M. nun auch dann abschieben, wenn sein Asylantrag durchkommen sollte. Allerdings nicht in die Türkei, sondern „nur“ in einen „Drittstaat“, der den Jungen aufnimmt. Gegen diese Ausweisung hat M.s Vormund, den das Treptower Jugendamt stellt, keine Rechtsmittel eingelegt.