■ Rußlands Eisfischer und ihre Schollen
: Stundenlang starren

Moskau (rtr) – Was Turnschuhkraxler für die Bergwacht, sind Eisfischer für den russischen Katastrophenschutz – ein rotes Tuch. Alljährlich geraten Tausende Eisangler in Seenot und müssen in ebenso riskanten wie kostspieligen Einsätzen geborgen werden. Am Sonntag wurden 644 Frostfischer von einer riesigen Eisscholle evakuiert, die sich vor der Küste von St. Petersburg gelöst und drei Kilometer in die Ostsee getrieben war. Doch Dank haben die Retter nicht immer zu erwarten – im Gegenteil.

„Wir wollen sie rausholen. Und was machen die? Sie lachen uns aus und wollen weiterfischen“, beschreibt ein leidgeprüfter Vertreter des St. Petersburger Katastrophenschutzes die halsstarrigen Angler, die ihre Rettung manchmal mehr fürchten als das Treiben im Packeis. Denn theoretisch könnte ihnen die Rechnung für den Einsatz von Hubschraubern und Schiffen präsentiert werden – und sie bleiben deshalb schon mal auf der Scholle hocken, nehmen noch einen Schluck Wodka und warten, bis ein günstiger Wind sie zurück an die Küste bläst.

Wie bockig die Eisfischer sein können, erfuhren die russischen Rettungsmannschaften vor einigen Jahren, als eine lauffaule Anglergruppe mit ihren Autos aufs Eis fuhr und zusammen mit den Fahrzeugen losgerissen wurde. Die Männer weigerten sich strikt, die Scholle ohne Autos zu verlassen. „Doch die Lage war ernst. Sie mußten die Autos aufgeben“, erinnert sich ein Retter. Nur ein Fahrzeug ging verloren – die anderen wurden geborgen. Nicht immer geht es so glimpflich ab. Im März ertranken drei Angler im eisigen Wasser der Amurbucht.

Mit Warnhinweisen, so die Erfahrung der Behörden, braucht man den Eisanglern nicht zu kommen. Jedes Jahr sei es dasselbe Lied. „Sie wissen, wann es taut, und kümmern sich einen Dreck drum“, klagt ein Katastrophenschutz-Sprecher. 1997 gab seine Behörde umgerechnet 3,3 Millionen Mark zur Evakuierung der dickköpfigen Fischer aus.

Dick eingemummelt, mit Fellstiefeln an den Füßen, einer Pelzkappe auf dem Kopf, Angelrute, Eimer und mindestens einer Flasche Hochprozentigem in der Hand ziehen täglich Tausende auf die zugefrorenen Flüsse, Meere und Seen, bohren ein Loch in das Eis und warten. Stundenlang starren sie abwechselnd in das dunkle Loch oder in die Wodkaflasche und sind zumeist auch dann noch wohlgemut, wenn ihnen das Anglerglück nicht hold ist. Denn beim Eisfischen, so erklärte ein langjähriger Frostangler einmal den Sinn der kalten Übung, gehe es nicht allein um die Beute, sondern um mehr, um das „Gefühl der Freiheit“. Susanne Höll