Die Mega-Inkarnation des Parteienstaates

Jürgen Busche erfreut sich in seiner Kohl-Biographie an den Finessen des Machttaktikers und liest den pragmatisch ahnungslosen Linksintellektuellen die Leviten, die Kohl meistens verfehlten, wenn sie ihn ästhetisch oder moralisch verunglimpften  ■ Von Norbert Seitz

„Wer eine Geschichte von ihrem Ende her erzählt, läuft stets Gefahr, ihre Helden dümmer und schlauer zu machen, als sie unterwegs waren oder sein konnten.“ Jürgen Busche entzieht sich in seiner Kohl-Anatomie dieser Gefahr. Denn sein Held ist nicht die einsame Persönlichkeit eines genialen Staatsmannes, sondern ein Kaufhof-Hirsch, der sich mit viel „Ungeniertheit, ja Geschmacklosigkeit“ zu realisieren pflegt. Kohl rage mit keinem seiner Züge über das Profil der Bundesrepublik hinaus. Er bestätige es nur mit seiner „Provinzialität, Biederkeit und Harmlosigkeit“ – dafür aber „fast perfekt“. BRD=CDU=Kohl. Allen Vorgängern im Kanzleramt seien „die politischen Verhältnisse im Land äußerlich geblieben“. Dagegen steht die ganz der Bundesrepublik angehörende politische Kohl-Biographie für die Mega-Inkarnation des korpulenten Bonner Parteienstaates.

Über viele Kapitel weidet sich der Autor an den taktischen Winkelzügen des schwarzen Riesen, mischt Freunde und Gegner auf, macht Vertraute und Verräter ausfindig, um alle Spielchen um die begehrte Macht nochmals lustvoll zu rekonstruieren: „Ein guter Spieler nimmt nicht mehr, als er braucht. Er tut nicht mehr, als er muß.“ Und bei allem darf natürlich auch ein kräftiger Schuß Schadenfreude nicht fehlen. Busche komplettiert die Kapitel mit kleinen Kanzler- oder Politikerporträts, die freilich im Schilderungsfluß der Machtszenarien oft störend wirken.

Detailliert ordnet der Autor die Machtkalküle des jungen Senkrechtstarters – vom legendären Düsseldorfer Mitbestimmungsparteitag 1971, auf dem der Karrierist gegen seinen eigenen Entwurf stimmt, seiner darauffolgenden deftigen Niederlage gegen Barzel um die Kiesinger-Nachfolge, der Erringung des CDU-Vorsitzes zum richtigen Zeitpunkt, als die Union nach stramm rechts zu kippen drohte.

Natürlich muß auch der Autor einräumen, daß man im Rückblick „nicht alles, was zu einem Erfolg führte, als einen ausgeklügelten Weg zusammendenken“ kann.

Beim Kampf Kohl gegen Strauß gerät Busche richtig ins Schwärmen. Würde er mit Hut schreiben, hätte er ihn wohl noch nachträglich für den Coup mit Ernst Albrecht 1979 gezogen. Damals sei Kohl mit der Unterstützung der unionsinternen Gegenkandidatur des Niedersachsen „eines der symptomatisch genialsten Spielchen“ gelungen, „die er auf seinem Weg zur Kanzlerschaft gespielt hat“. Der Hintergrund: Das CDU-Präsidium provozierte mit der vorzeitigen Albrecht-Nominierung die bayerische Schwesterpartei zur Strauß- Offensive um die Kanzlerkandidatur. Kohl mußte damals als umstrittener Fraktionschef eine Auszeit nehmen, wußte aber auch, daß beide – Albrecht oder Strauß – gegen den Schlachtenlenker des Deutschen Herbstes, Helmut Schmidt, keine echte Siegeschance haben würden. Also ließ er beide totlaufen. Einen Verantwortungsethiker dürfte es grausen beim Gedanken an eine bewußte Inkaufnahme des innenpolitischen Reizfaktors FJS.

Als Kohl dann doch Kanzler im zweiten Anlauf wurde und auf fragwürdige Weise Neuwahlen herbeiführen mußte, gelangt Busche zu der sonderbaren Einschätzung, die Karlsruher Richter gleichsam zu politischen Partnern des frischgewählten Kohl zu stempeln. Sie hätten „genug Vertrauen zu Kohl gehabt“, „um mit ihm die dem wohl des Volkes abträgliche Regierungszeit Schmidts zu beenden“. Die Herren in den roten Roben sind nicht dazu da, um derart parteiisch Regierungszeiten zu beenden, und hätten es auch nicht tun müssen, da Schmidts Regentschaft zuvor längst auf demokratische Weise beendet worden war.

Mit advokatorischer Versiertheit diskutiert der Autor nochmals Kohls Handlungsmöglichkeiten in der Wörner-Kießling- und in der Bitburg-Affäre während der 80er Jahre und kocht die Botschaft von der geistig-moralischen Wende auf eine beliebige Floskel des Dampfplauderers herunter: „Wir brauchen wieder mehr Hausmusik.“ Geist und Moral hätten zunächst einmal nichts miteinander zu tun, eine geistig-moralische Wende von Staats wegen sei nach katholischer Anschauung ein „Unbegriff“. Schlimmes konnte der Katholik Kohl also damit nicht gemeint haben. Der Machtmensch läßt sich aber nicht zum bloß menschelnden Bettvorleger nivellieren.

Viel zuviel Lärm auch um die Staatsfeier in Bitburg am 8. Mai 1985. Dort hätten Kohls Gegner „mehr unrecht gehabt als Kohl recht“. Der deutschen Linken sei endgültig die „Kompetenz zur Kritik Kohls“ verlorengegangen. Weil sie ihn als „nationalen Geschichtsromantiker“ verunziert habe. Das Gegenteil stimmt: die Linke sammelte gerade gegen die geschichtspolitische (und nicht -romantische) Offensive der Neokonservativen Pluspunkte, nachdem sie zuvor auf einer eher unpolitisch-stilistischen Einstellung zu Kohl zu verharren schien.

Doch an des Kanzlers vielgepriesener Ungeniertheit, Vertrauen zu gewinnen und auszustrahlen, „endet die Kunst des Historikers“. Da muß schon eher der Anatom Busche ran, um die Frage zu klären: „Wie hat er das eigentlich gemacht?“ und „Was hatte Kohl zu bieten?“ Kein Zweifel: Seine Erfolge gelten als „factum brutum der Geschichte“. Auch wenn Kohl mit der Neuvereinigung „eines der glänzendsten Bravourstücke in der Geschichte der Diplomatie“ gelingen sollte, ist er kein Politiker der phänomenalen Einzelleistung, sondern ein Meister der Kontinuität“ – Busche nennt es „die Anschlußlogik für das, was vorher war“.

Heftig in Wallung gerät der Autor jedesmal, wenn es um die Pendants von Brandt und Kohl, Helmut Schmidt und Heiner Geißler, geht. Manchmal scheint es, als wolle er noch nachträglich den persönlichen Rächer des von Schmidt so gedemütigten Kohl spielen. Politische Vorbilder seien eher souveräne Generalisten wie Brandt als „ein um fachliche Anerkennung eifernder Kleinigkeitskrämer“, der nie wie ein Politiker oder Parteipolitiker gewirkt habe – „und es auch nicht war“. Schmidts Umgangsformen hätten dem „Karriereziel des Kleinbürgers“ entsprochen: „Der Feldwebel“.

Unwirsch reagiert Busche auch jedes Mal auf den treulosen Geißler, der „von den christlichen Grundtugenden alle mißachtet hat bis auf eine – die Tapferkeit“. Hier wird Kohls Politikverständnis auf einen Satz von Sekundärtugenden reduziert, die unter konservativen Menschen als immergültig firmieren: Weizsäckers „Undank“ gegenüber seinem einstigen Förderer ist geradewegs schändlich, und auf die „persönliche Verläßlichkeit“ sei „bei einem Heiner Geißler kein Verlaß“. Ebenso wird den sozialdemokratischen „Enkeln“ „Lässigkeit in der politischen Kleinarbeit“ bescheinigt. Es habe ihnen an der nötigen inneren „Härte“ gemangelt, um einem wie Kohl ernsthaft Paroli zu bieten. Politik ist also wie im richtigen Leben: Immer anständig bleiben und aufpassen, wenn „Hier“ gerufen werden soll. Ansonsten heißt Politik bei Kohl nicht mehr als freudig Wahlkämpfe zu führen, die Macht zu erobern und zu bewahren und gute Stimmung im Lande zu verbreiten.

Weit gefehlt, wer Busches originelle, aber auch manchmal ein wenig aus dem Ruder laufende Betrachtung für eine Kohl-Eloge halten sollte. Die Wahrheit des Buches liegt woanders. Der Autor liest gleichzeitig einem unsichtbaren Dritten die Leviten: den pragmatisch ahnungslosen Linksintellektuellen im Land, die Kohl meistens politisch verfehlten, als sie ihn ästhetisch oder moralisch verunglimpften.

Umgekehrt habe Kohl den Intellektuellen in Deutschland eine „bittere Lektion“ erteilt: „Auch ein Politiker, der das Richtige nicht angemessen in Worte fassen kann, ist gleichwohl in der Lage, das Richtige zu tun.“

Warum machen die Intellektuellen die Politik nur so kompliziert? lautet immer wieder die verschmitzte Devise des Skatspielers Busche: „Man muß seinen Platz am Spieltisch behaupten, wenn man die Karte ausspielen will, die den Stich macht.“

Der Autor ärgert die Linke noch zusätzlich. Denn sein Buch beginnt nicht in Oggersheim bei der Mutter, sondern in Wilflingen bei Ernst Jünger: „Hier ehrt die Macht den Geist“, hebt Busche ab, als wolle er bei Walter Jens ein Treffen zwischen Brandt und Böll zitieren. Doch er überzieht: „Deutschlands Kanzler ehrt Deutschlands Dichter.“ So meißelt man Kriegsdenkmäler.

Busche gerät mit seiner Anatomie der Demoskopie in die Quere. Nur ein Wunder könne Kohl noch retten: „Es ist nicht zu sehen, was das Fortschreiten der Entwicklung oder gar den Trend umkehren könnte.“ Und dieser Trend besagt, daß die Kohl-Koalition seit 1983 kontinuierlich verlor, bis sie 1994 nur noch über magere 0,3 Prozent Vorsprung verfügte. Eine solche schier ausweglose Situation „paßt nicht zu Kohl“, bemerkt der Autor mißtrauisch: „Er kann zwar verlieren, aber er ist kein Verlierer.“ Ganze Niederlagenserien bei Landtagswahlen hagelte es schon. „Es war aber noch keine endgültige Niederlage dabei.“ So rätselt Busche an Kohls Absicht herum, nochmals antreten zu wollen, bis er für ihn einen passablen Ausweg aus dem Dilemma findet. Europa sei gewiß sein wichtigstes Ziel. Darum gewinne Kohl, wenn 1998 Europa gewinne und mit Europa die Bundesrepublik. Zwar nicht die Wahl, aber weiter an Statur.

Jürgen Busche: „Helmut Kohl. Anatomie eines Erfolgs“. Berlin Verlag. 308 Seiten, 39,80 DM