Brecht für immer und ewig

■ Hundert BremerInnen feierten des Dichters Geburtstag mit einem Lesemarathon

Brecht ist geduldig. Im Bremer Schauspielhaus sitzt der Augsburger haushoch da am Klavier, hat die Brauen hochgezogen und hält mit seinen spöttisch grinsend runden Lippen die Zigarre im Mund. Unveränderlich. Das Publikum ist weniger geduldig. Nach einer knappen Stunde geht der erste – der SV-Werder-Torhüter Oliver Reck. Nach zwei Stunden gehen die nächsten und erst nach viereinhalb Stunden die letzten – zum Torte-Essen ins Foyer. Der hunderste Dichtergeburtstag vor ausverkauftem Haus als Marathon von Schleef-Format: „Hundert Bremerinnen und Bremer lesen Brecht.“

Lesen. Man sollte ihn lesen. Wenn schon kein Schauspieler Wuttke als Arturo Ui greifbar ist. Ohnehin ist es in den Festschriften modisch geworden, nur noch den Lyriker und Jungdramatiker Brecht für dauerhaft zu halten. Einem Wuttke oder einem Andrej Woron zum Trotz, der hier eine überaus beliebte „Dreigroschenoper“inszeniert hat. Allein die hundert prominenten und weniger prominenten BremerInnen vom Schüler- bis zum Rentneralter scheren sich nicht viel um Festschriften. Ein jeder liebt halt seinen eigenen Brecht.

Oliver Reck zum Beispiel. Der Aspirant für die WM-Teilnahme gehört der ersten von vier 25er-Schichten an. Er erhebt sich von Stuhl zwölf, tritt ans Pult und liest „Liebe zu wem“. Die Brecht-Reck-Erkenntnis: „Selbstliebe hat immer etwas Selbstmörderisches.“Oder Klaus Hübotter, einst heimlicher DKP-Mäzen und noch heute Bauunternehmer: „Das Schwärmen von der Natur kommt von der Unwirtlichkeit der Städte – Brecht!“Die bündnisgrüne Ex-Kultursenatorin Helga Trüpel bevorzugt drei Lyrikhäppchen. Die aus dem Osten Berlins stammende Schauspielerin Katrin Heller schmettert beängstigend pathetisch das Lied von der Solidarität und vergißt gekonnt die Strophen. Ein Brecht-Spiel.

Die vom Krimi-Autor Jürgen Alberts aufgestellten Regeln: Uraufführung ohne Probe; erlaubt ist, was gefällt; Wiederholungen sind nicht ausgeschlossen; die Redezeit beträgt maximal vier Minuten. Fast alle aktiven und Ex-SchauspielerInnen, JournalistInnen, AutorInnen, SportlerInnen, MitschülerInnen der Tochter und anderen NachbarInnen halten sich daran. Sie rezitieren Brecht auf deutsch, griechisch, persisch und südluxemburgisch (sic!) und stellen eine Hitliste auf: „Aus den Geschichten vom Herrn Keuner“und weitere Aphorismen führen deutlich. Die „Erinnerung an die Marie A.“hält sich wacker.

Doch, so die Botschaft des kunterbunten langen Abends, sämtliche klassenkämpferischen Parabeln, Epiloge und Fabeln werden noch auf ewig zitiert. Auch wenn eine Bremerin vor 1956 im Theater am Berliner Schiffbauerdamm immer weinen mußte und später ganz unromantisch daraus lernte, daß „linke Theorie und Praxis doch auseinanderfallen“. Aber Brecht ist ja geduldig. Zumindest in Bremen.

Christoph Köster