■ Vorschlag
: Fotografien von Lotte Errell

In den 20er und 30er Jahren hatte die abenteuerumwitterte Reisefotografie Hochkonjunktur. Eine ihrer Protagonistinnen war Lotte Errell. Mit Reportagen von der Goldküste (heute Ghana) wurde sie 1930 in den Zeitschriften Atlantis und Koralle bekannt, im Jahr darauf folgte ihr Buch „Kleine Reise zu schwarzen Menschen“. In Nahaufnahmen macht sie mit dem Ewe-Stamm vertraut: nackte Frau im Profil, Gesicht eines Kindes, weibliches Hinterteil mit Schurz, erdige Fetischmaske des Geheimbundes – Einzeleindrücke, Mosaiksteine einer fremden Welt. Als Errell 1931–32 im Auftrag des Ullstein Verlages ein Jahr lang in China lebte, beobachtete sie verschiedene Aspekte des Alltagslebens: Kinderarbeit in einer Seidenspinnerei und Arbeitslose auf den Straßen von Shanghai, wartende Rikschakulis im regennassen Park oder einen uniformierten jungen Studenten, der, unter einem Baum sitzend, die Gespräche zwischen Goethe und Eckermann liest. Einem Kinderpaar beim „Training zum graziösen Gehen“ (siehe Foto) stehen mehrere Fotos von verkrüppelten Füßen gegenüber. Mit Rücksicht auf die Modemagazine, für die sie arbeitete, stellte Errell häufig Frauen der Oberschicht dar: weniger als Individuen denn als Trägerinnen eines westlich-modernen Lebensstils.

Umfangreiches Bildmaterial ergab 1935 auch eine Reise nach Kurdistan. Errell zeigt als Sequenz die Hochzeitszeremonie kurdischer Nomaden, den reichen Schmuck kurdischer Frauen und die politische Klasse, darunter die „ungekrönte Königin“ Hafza Chan. Wie schon im Falle China ist das historische Verständnis ohne die häufig von der Fotografin selbst verfaßten Begleittexte nicht leicht.

Die Ausstellung „Lotte Errell – Reporterin der 30er Jahre“, übernommen vom Museum Folkwang in Essen, rekonstruiert ein wichtiges Werk, angesiedelt zwischen dokumentarischer Fotografie und Neuem Sehen, und zugleich einen Lebenslauf. 1930 in Münster als Lotte Rosenberg geboren, übernimmt die autodidaktische Fotografin das künstlerische Pseudonym Errell von ihrem ersten Mann, dem Werbegrafiker Richard Lewy. Ihre fotografischen Expeditionen machen sie unabhängig und erfolgreich. Doch 1934 wird ihr als Jüdin die journalistische Arbeit in Deutschland untersagt. 1935 heiratet sie in Bagdad den deutschen Arzt und Emigranten Herbert Sostmann, ihre eigene Arbeit wird spärlicher. Bald folgen Internierung und vergebliche Bemühungen, in die USA zu emigrieren. Ab 1954 lebt das Paar in München. Lotte Sostmann stirbt 1991. Ihre fotografisch-journalistische Tätigkeit hatte sie längst aufgegeben, ihre Wiederentdeckung als Lotte Errell aber noch erlebt. Michael Nungesser

Bis 15. 3., Mi.–So., Das Verborgene Museum, Schlüterstraße 70