Fünf Minuten Filmgeschichte

Mehr Stil als Inhalt: Das Kino Robert Siodmaks lebt vor allem von der Kraft der visuellen Imagination. Dem Regisseur mit den vier Karrieren und seinem weniger bekannten jüngeren Bruder Curt ist die Retrospektive der Berliner Filmfestspiele gewidmet  ■ Von Lars Penning

Ein Gedanke scheint Robert Siodmak in den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens besonders beschäftigt zu haben. Immer wieder klingt in Interviews und in seiner Autobiographie an, was er der „Film Revue“ 1960 erzählte: „Selbst unter idealen Voraussetzungen, in einem Film also, den man nach eigenem Wunsch und Geschmack machen kann, darf man von Glück sagen, wenn fünf Minuten darin sind, die befriedigen – einige wenige Szenen, in denen man das verwirklichen konnte, was einem vorgeschwebt hat.“ Da schwingt ein Bedauern über verpaßte Chancen und die vielen Kompromisse mit, die er im Laufe seiner langen und erfolgreichen Karriere eingegangen war. Aber auch ein zynischer Realismus: „It's just another picture.“

Mit jenen ominösen fünf Minuten aber, in denen er die Kamera nutzte, um „echten Film zu inszenieren“, schrieb er Kinogeschichte: Zum Beispiel mit der langen Sequenz in „Phantom Lady“ (1943), in der Ella Raines als Amateurdetektivin einen Verdächtigen, dem das nervtötende Klackern ihrer Absätze auf dem nassen Pflaster mindestens ebenso zu schaffen macht wie sein schlechtes Gewissen und eine grassierende Hitzewelle, durch die nächtlichen Straßen bis auf den Bahnsteig einer Hochbahnstation verfolgt. Oder – ebenfalls in „Phantom Lady“ – mit der wilden Jazz-Jam-Session, bei der sich der Drummer (Elisha Cook jr.) in eine frenetische Ekstase hineinsteigert und so sein erotisches Verlangen nach der Frau ausdrückt, die er gerade kennengelernt hat. Oder auch mit jenen Augenblicken des Terrors in „The Spiral Staircase“ (1945), wenn die stumme Helen (Dorothy McGuire), von Panik getrieben – und mehr von der Kamera als vom psychopathischen Mörder verfolgt – die Räume eines finsteren alten Herrenhauses auf der Suche nach Hilfe durchstreift.

Das Kino Robert Siodmaks lebt von seiner visuellen Imagination: mehr Stil als Inhalt. Kaum erstaunlich, da Siodmaks beste Filme stets in der Zusammenarbeit mit erstklassigen Kameramännern entstanden. Mit Eugen Schüfftan arbeitete er in Deutschland, Frankreich („Mollenard“, 1937) und Hollywood zusammen, Elwood „Woody“ Bredell stand ihm bei Universal für „Phantom Lady“ und „The Killers“ (1946) zur Verfügung, bei RKO traf er für „The Spiral Staircase“ auf Nicholas Musuraca, wie Bredell ein Meister des „Low key“-Lichtes.

Ausgeklügelte Spannungsbögen waren dagegen Siodmaks Sache nicht, ebensowenig wie Ratekrimis: So hat man den Mörder in „The Spiral Staircase“ doch relativ schnell entlarvt, und in „Piges“ (1939) schert sich der Film schon nach wenigen Minuten so wenig um seine eigene Geschichte, daß die Frage nach dem Täter völlig in den Hintergrund tritt. Das Taxi- Girl, das ausgezogen war, um den Mörder einer Kollegin zu finden, erlebt statt dessen Abenteuer mit einem irren Modeschöpfer und bietet einem durchtriebenen Mädchenhändler mit Witz und Mut Paroli. Und als ein Kommissar das Rätsel dann doch noch lösen möchte, beginnt der Film noch einmal von vorne – und gibt den heiteren Ton der ersten achtzig Minuten vollständig zugunsten eines düsteren Melodrams auf.

In Siodmaks Filmen lassen sich häufig derartige Stilbrüche erkennen. So ist es auch nicht verwunderlich, daß seine besten Arbeiten in Hollywood im Stile des Film noir entstanden: düstere, verworrene und oft in mehreren Rückblenden erzählte Geschichten, deren zerrissene Helden sich in einer von tiefen Schatten geprägten Welt nicht mehr zurechtfinden. Kaum jemals zuvor war auf der Leinwand ein derartiger Fatalismus zu spüren gewesen wie in der Eingangssequenz von „The Killers“, in der Burt Lancaster lethargisch im Dunkeln auf seinem Bett liegt und darauf wartet, von zwei Auftragsmördern, die unterdessen die Belegschaft eines schäbigen Restaurants terrorisieren, erschossen zu werden.

Als Robert Siodmak mit diesem Film Mitte der vierziger Jahre zu einem der berühmtesten und bestbezahlten Regisseure in Hollywood aufstieg, hatte er bereits zwei erstaunliche Karrieren hinter sich gebracht. Der Erfolg seiner ersten Regiearbeit „Menschen am Sonntag“ (1929), jenes legendären semidokumentarisch und semiprofessionell in den Straßen Berlins gedrehten Stummfilms, hatte Siodmak 1930 zur Ufa geführt, wo er sich mit dem originellen Tonfilm „Abschied“ einführte: Mit Ausnahme eines kurzen Epilogs verläßt die Kamera niemals die Familienpension, in der sich aus einem Durcheinander aus Klaviermusik, Geschwätz und Telefonaten die melodramatische Geschichte einer Trennung nur langsam herauskristallisiert. Siodmak und sein Kameramann Schüfftan finden in dem beengten Dekor immer wieder ungewöhnliche Perspektiven: Türen eröffnen neue Räume in die Tiefe, Personen oder Requisiten, die unscharf im Anschnitt zu sehen sind, verstellen den Vordergrund. In einer der interessantesten Szenen ist das Liebespaar gar nicht zu sehen: Der Dialog kommt aus dem Off, während Zigarettenqualm langsam zur Decke steigt.

Innerhalb eines Jahres hatte Siodmak sich als Topregisseur etabliert: Aufgestiegen in die Produktionsgruppe Erich Pommers, arbeitete er mit den großen Stars der Ufa in den verschiedensten Genres. Mit Heinz Rühmann drehte er die Groteske „Der Mann, der seinen Mörder sucht“ (1930), mit Emil Jannings das Melodrama „Stürme der Leidenschaft“ (1931), mit Hans Albers und Lilian Harvey das Musical „Quick“ (1932). Als sein Film „Brennendes Geheimnis“, ein elegantes Melodram nach einer Novelle von Stefan Zweig, im März 1933 in die deutschen Kinos kam, war der jüdische Regisseur jedoch bereits vor den Nazis nach Frankreich geflohen. Dort ermöglichte ihm sein Cousin, der Filmproduzent Seymour Nebenzahl, den Start in eine zweite, ebenso erfolgreiche Karriere, die mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ebenso abrupt endete.

In Hollywood erwartete ihn jedoch niemand – erst zwei Jahre nach seiner Ankunft bekam Robert Siodmak erste Aufträge für eine Reihe von B-Filmen. Doch schnell begriff er die amerikanische Art, Filme zu machen: „...ein guter Direktor ist jemand hier, der der Firma Geld einbringt“, schrieb er 1944 an seinen Bruder Werner und fügte hinzu: „Ich sehne mich an die Zeiten zurück, wo ich machen konnte, was ich wollte.“ Seine Anpassungsfähigkeit bescherte ihm den erneuten Erfolg: Nachdem er mit Krimis, Komödien und einem Horrorfilm seine Tauglichkeit als amerikanischer Regisseur unter Beweis gestellt hatte, machten ihn eine Reihe von Films noir zu einem der geachtetsten Vertreter seiner Zunft.

In seinen europäischen Nachkriegsproduktionen (die vierte Karriere!) verließ ihn dann jedoch die künstlerische Fortune. Die einzigen Werke, die er selbst noch gelten ließ, waren „Die Ratten“ (1955) und „Nachts, wenn der Teufel kam“ (1957), in denen er ein aus seiner Biographie durchaus erklärbares Interesse an der deutschen Gegenwart, beziehungsweise der jüngsten Vergangenheit zeigte. Blieb Robert Siodmak mit seinen Filmen im Kino und im Fernsehen bis heute präsent, so wird die Hommage an seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Curt, den man in Berlin auch als Ehrengast erwartet, eine durchaus abenteuerliche Reise in unbekannte Gefilde. Daß Curt Siodmak die große Popularität seines Bruders nie erreichte, hängt in erster Linie mit einem verengten Blick auf Filmgeschichte zusammen: Drehbuchautoren spielen in den Analysen und Betrachtungen von Filmjournalisten und -historikern nur selten eine Rolle.

Zumal Curt Siodmak als Schriftsteller von Romanen und Drehbüchern vor allem im Horror- und Science-fiction-Genre tätig war: flott produziert für den schnellen Konsum, waren sie ebenso schnell wieder vergessen. Oft wurde er von Produzenten auch als „script doctor“ engagiert, bekam für das Umschreiben von Drehbüchern jedoch keinen Credit. So finden sich in Curts Filmographie lediglich drei echte Kinoklassiker: „Menschen am Sonntag“, der seinen Bruder berühmt machte und zu dem Curt neben der Idee einige tausend Mark beisteuerte; „The Wolf Man“, mit dem er als Drehbuchautor dem Horror- Universum der Universal-Studios eine äußerst lukrative neue Figur hinzufügte; und Jacques Tourneurs „I Walked with a Zombie“, für den er als Koautor zeichnete. Seinen größten Erfolg feierte Curt Siodmak jedoch mit dem Roman „Donovans Brain“: Die Geschichte eines Gehirns, das partout nicht sterben will und per Gedankenübertragung die Kontrolle über das Leben eines Wissenschaftlers erringt, wurde seit ihrem Erscheinen im Jahre 1941 gleich viermal auf Zelluloid gebannt. In den 50er Jahren führte Curt auch mehrmals selbst Regie: Ob Filme wie „Love Slaves of the Amazons“ oder „The Magnetic Monster“ allerdings halten, was ihre trashigen Titel versprechen, muß man bei der Berlinale schon selbst erkunden.