Die feste Hülle des Bildhauers gesprengt

■ 1995 jährte sich der Geburtstag des Bildhauers, Malers und Schriftstellers Ernst Barlach zum 125. Mal / Ein Beitrag zur Beziehung zwischen Bild und Text im Gesamtwerk Ernst Barlachs Von Gunter Martens

Ernst Barlach – Bildhauer, Zeichner und Dichter – gehört in die ansehnliche Reihe von Doppel- und Mehrfachbegabungen, die uns seit dem Ausgang des Mittelalters in vielen Kulturen begegnen. Was trieb diesen Künstler, in den verschiedensten medialen Bereichen tätig zu werden, was bewog Ernst Barlach, von Anfang an neben seiner bildhauerischen Tätigkeit, neben dem Zeichnen und Malen auch zu schreiben: zunächst erzählende Prosa, später dann vor allem Theaterstücke?

Wir erfahren aus verschiedenen Selbstäußerungen, daß ein Zwang, eine innere Notwendigkeit hinter dieser doppelten oder gar dreifachen Kunstausübung stand. „Nun kann mir aber die Plastik nicht ganz genügen, deshalb zeichne ich, und weil mir das nicht ganz genügt, schreibe ich.“ Schon dieses Zitat verweist darauf, daß es Ernst Barlach beim Schreiben der Dramen und Erzählungen um mehr ging als um die bloße Wiederholung dessen, was er in den Plastiken bereits ausgedrückt hat: Der Text sucht insbesondere das zu fassen, was der Plastik und Zeichnung versagt bleiben muß, Bild und Text ergänzen sich, indem sie Unterschiedliches fassen; die eine Kunstform die andere negierend, bilden sie insgesamt dennoch eine Einheit – freilich eine sehr spannungsgeladene Einheit, eine Einheit des in sich selber Geschiedenen, die schon Hölderlin zum Ende des 18. Jahrhunderts als das Eigentliche der Kunst, als das „Wesen der Schönheit“ bezeichnete.

Wenn man sich des künstlerischen Ortes Ernst Barlachs und des besonderen Ausgangspunktes seines bildnerischen Schaffens vergewissern will, so ist seine Ablehnung der abstrakten Kunst in der Moderne zweifellos grundlegend: „Kann man das Innere durch Linien ausdrücken?“, fragt er im Diario Däubler. Und er antwortet sogleich selbst: „Für mich ist das Organische in der Natur der Ausdruck eben des Inneren, die Menschengestalt der Ausdruck Gottes, soweit er im Menschen und hinterm Menschen steckt, brütet, wühlt.“

Barlachs künstlerische Grundhaltung ist in der Plastik – und auch in den Zeichnungen – vom Grunde her nicht abstrakt, sondern mimetisch: Sie bildet die menschliche Figur in der Weise ab, daß wir sie wiedererkennen, daß sie als Gefäß zum Ausdruck verschiedenster Regungen und Strebungen – seien sie nun gefühlsbestimmt oder geistig – dienen kann. Das ist die „Haut“ des „Zeichners, Bildhauers“, aus der er nicht „schlüpfen“ kann, wie uns Barlach versichert. Doch könnte schon hier die Formulierung „meine künstlerische Muttersprache“ Anlaß zur Nachdenklichkeit geben, als eine Einschränkung und ein Hindeuten auf ein anderes aufgefaßt werden, auf etwas dem Leiblich-Körperlichen Entgegengesetztes, auf ein „väterliches“ Prinzip.

Denn Barlach dürfte zweifellos kaum die Frage nach der Zeitgemäßheit einer solchen Einstellung entgangen sein, die auf die gemeinsame Sprache des Körperlichen rekurriert, sieht er sich doch in diesen Jahren mehrfach selbst als Reaktionär, gar als „Barbar“ angesprochen. Ihm konnte die Einsicht nicht verborgen bleiben, daß spätestens mit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Grundlage einer gemeinsamen und umfassenden Sprache, genauer: einer für alle verbindlichen Ordnung dieser Welt, die sich in den Formen der Kommunikation abbilden läßt, verlorengegangen war. Nietzsches Ausspruch „Gott ist tot“ faßt bekanntlich diese Erfahrung in einer handlichen Formel zusammen. Und Barlach kannte seinen Nietzsche nur allzu gut.

Es dürfte daher schwerfallen, plausibel zu machen, Barlach sei an dieser Entwicklung blindlings vorbeigegangen und habe zeitlebens allein an Positionen des 19. Jahrhunderts festgehalten. Wir kennen aus vielfachen Äußerungen seine Zweifel: Im Selbsterzählten Leben spricht er vom „Bewußtwerden eines Dinges, eines Wirklichen ohne Darstellbarkeit“ – eines „Wirklichen“, das er auch als das menschlich unfaßbare „Absolute“ bezeichnet, und er fügt in signifikanter Paradoxie hinzu: „unpersönlich-persönlich“. Der Gottesbegriff, den er zunächst für diese Vorstellung einsetzt, wird ihm freilich zunehmend problematisch, gipfelnd in dem berühmten Brief an Pastor Johannes Schwartzkopff vom 3. 12. 1932: „Ich habe mir oft vorgenommen, das Wort Gott nicht mehr zu gebrauchen, denn ich fühle vernichtend den Unterschied zwischen dem menschlichen Empfindungs- und Anschauungsvermögen und dem alles Sein und Geschehen einschließenden Begriff.“

Hier scheinen denn auch die Grenzen des an der menschlichen Figur orientierten Darstellungskonzeptes seiner bildnerischen Arbeiten auf: Wie kann denn Kunst etwas zur Anschauung bringen, was schlechthin undarstellbar ist, wie kann sie von „der Ausströmung des ewig unbekannten Gottes“ zeugen, „dessen, was eben nicht menschenmäßig ist und darum nicht von Menschen erfaßbar, also ihnen unbekannt ist und bleibt“, überlegt Barlach in seinem Aufsatz Dichterglaube. Hier spricht sich Verunsicherung aus, die letzthin darin wurzelt, daß selbst der Gott ihm allein noch als „Menschengott“, von „Menschen geschöpft“, erscheint – als „Vizekönig im Sein“ eine überaus absurde Figur. Dennoch hält er zeitlebens in der bildenden Kunst an seinem Ansatz einer Orientierung an der menschlichen Gestalt fest, nicht zuletzt aus der Überzeugung, daß die ihm „gegebene Sprache und Darstellung – wenn auch stammelnderweise – von etwas zeugt, das vom Ort, von Wille, Verstand und Vernunft überhaupt nicht berührt wird“ – und das selbst auf die Gefahr hin, an der übergroßen Spannung des unfaßbaren Gedankens, daß selbst noch „das Gräßlichste Ä...Ü gut und von Gottes wegen notwendig“ sei, zu zerbrechen.

Das bedeutet künstlerisch für ihn zum einen, seine eigene bildliche Gestaltung bis an die Grenzen des Darstellbaren zu treiben und damit ihre Begrenztheit selbst aufscheinen zu lassen, und zum anderen, nach Ausdrucksformen zu suchen, die außerhalb von Zeichnung und Skulptur liegen. Hier sehe ich die eigentliche Wurzel seines „Dranges“ zu schreiben: Aus dem nicht aufhebbaren Ungenügen der Arbeit als Bildhauer und Zeichner greift er zum literarischen Medium: Es ergänzt nicht nur die in der bildnerischen Gestaltung beschlossenen Ausdrucksmöglichkeiten, sondern reißt sie auf – „hüllensprengend“.

Gunter Martens ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg.