Gruppenbildung der Einzelkämpfer

■ Deutsche Kammerphilharmonie erfreut ihr jugendliches Publikum in der Glocke mit Schnittke und Lutoslawski

Eine Geige sägt, autistisch wie eine Leibnizsche Monade, unbeirrbar durch das musikalische Geschehen um sie herum. Sie sägt so wild pathetisch, als wühle sie in einer Mahlerschen Herzschmerzmelodie. Dabei beackert sie nur einen einzigen Ton. Die anderen Instrumente lassen sich von so viel Energie anstecken. Sie schwenken ein in den singenden Gestus und entdecken sogar kleine Melodien.

Szenenwechsel. Ein Haufen Streicher verknäulen sich zu einem unentwuselbaren Legato-Brei. Ein Kollektiv versenkt sich. Jeder trägt seinen Faden zum Gebetsteppich bei. Nur einer streikt. Wieder verbeißt sich die Geige der ersten Szene in einem Ton. Diesmal aber ruppig wie ein bockiges Kind. Die Störung gelingt. Das Kollektiv wacht auf.

„Präludien und Fuge für 13 Solostreicher“des Polen Witold Lutoslawski läßt sich ohne Schwierigkeiten hören als eine Aneinanderreihung kleiner gesellschaftlicher Tableaus, fast wie ein geheime Vertonung von Elias Canettis fragmentarisch-politischem Essay „Masse und Macht“. Es geht um die Bildung und Auflösung von Gruppen durch Impulse von Einzelnen. Zusammenspiel wird nicht wie im klassischen Orchestersatz vorausgesetzt, sondern bedarf der Entwicklung – und erlaubt die Unterbrechung. Deshalb das Paradox von den „13 Solostreichern“, deshalb die räumlich isolierende Auf-stellung der dreizehn Musiker. Sitzen tut hier nur Dirigent Thomas Hengelbrock – und die Hände in den Schoß legen, zumindest gelegentlich; denn die fließende Interaktion von Einzelkämpfern verträgt keine ordnende Hand. Verantwortlich für die Anfälligkeit dieser Musik für soziologische Deutung ist Lutoslawskis Idee der Gliederkette. Formteile werden nicht selten verklammert durch das langsame Auströpfeln eines Klangfelds, während das nächste in einzelnen Stimmen bereits zu sprießen beginnt wie eine vorlaute Frühlingsblume im Januar. Diese Vorgänge geschehen sprunghaft wie der Wechsel der Moden oder zäh wie die Veränderung politischer Haltungen. Und manchmal kommt es zu Massenhysterien.

In der Programmgestaltung der Deutschen Kammerphilharmonie schimmert noch das alte Problem mit der Avantgarde durch. Erst kommt die Arbeit, nach der Pause das Vergnügen mit der Romantik, damit es zu keinen Abwanderungen nach dem Prosecco zwischendurch kommt. Doch der Applaus des relativ jungen Publikums für die Moderne scheint längst nicht mehr aus Pflichtgefühl, sondern echtem Gefallen gespeist. Die Beharrlichkeit der Kammerphilharmonie in Sachen 20. Jahrhundert hat sich gelohnt. Die Pioniere der Moderne haben sich ihre Heimat erarbeitet. Verständnis ist da.

Auch für Schnittkes „Monolog für Viola und Streichorchester“. Ein paar formale Bezüge sind dort erkennbar. Zum Beispiel gibt es da eine um den Schlußton kastrierte Tonleiter aufwärts, die mit spannend-dezenten Veränderungen wiederholt wird, und – ah, Erinnerung – fünf Minuten später dasselbe abwärts. Doch über weite Strecken hört man Schnittke angenehm gedächtnislos. Umso besser kann man hineinlauschen in Tabea Zimmermanns Bratsche, wie sie Melodiebögen auch über große Intervallsprünge hinweg spannt, über homophonen Orchestersatz hinwegschwebt, sich in einen Raketenstart des Orchesters einklinkt, sich vom Unterbewußten des wispernden Orchesters tragen läßt.

Die Kammerphilharmonie pflegt die unverwechselbare eigene Handschrift nicht nur bei der Werkauswahl, sondern auch bei der Interpretation des musikalischen Altertums.

So gab es viele interessante Momente bei Schumanns 4. Sinfonie, die in der frühen Fassung dargereicht wurde. Beim langsamen Beginn zelebrieren Dirigent und Orchester die gar nicht leichte Kunst, Impulse zu setzen – rasches pathetisches An-und Abschwellen –, ohne den Legatozug auch nur im geringsten zu unterbrechen. Motive, die sich einfügen könnten, werden als Kontrast herausgemeißelt. Am Ende steht ein erstaunlich wuchtiger, schwerer, glühender Schumann im Raum – und das in guter Tradition tobende Publikum.

Barbara Kern