Kulissen der kindlichen Zerstörung

■ Das Regiepaar Jeunet/Caro zeigt Träume und Die Stadt der verlorenen Kinder

Mit dumpfer Eigendynamik rammt sich ein häuserblockgroßer Schiffsbug in die hölzerne Mole einer Hafenstadt. Es scheint, als solle der Welt der Garaus gemacht werden. Aber vor den Weltuntergang hat Gott viel Unbill gesetzt: den Menschen, bissige Hunde, Hunger, die Gentechnologie und – bei der ganzen Geheimnistuerei – Fantasy.

Wir befinden uns in der Stadt der verlorenen Kinder, dem neuen Film von Jeunet & Caro, den Erfindern von Delicatessen. Diese Stadt hat ein Problem. Ihr vorgelagert auf einer ausrangierten Plattform lebt Krank (Foto), dessen traumloses Leben an ihm vorbeirast und ihn altern läßt. Mit Hilfe seiner geklonten Brüder und kurzsichtiger Zyklopen raubt er der Stadt die Kinder, um sich an deren Träume zu verjüngen. Krank ist in seinem königsroten Gewand eine Art frühindustrieller Ceaucescu. Ließ der sich in seiner Lebensgier das Blut von Säuglingen einspritzen, so braucht Krank die Träume der Kleinen.

Seine geklonten Brüder umtänzeln ihren Herren in hofnärrischer Tumbheit. Weniger närrisch gerät die Tumbheit der Zyklopen, die die Exekutive bilden. In ihre Sehgeräte verschraubt ziehen sie als häßliche Molche durch die städtischen Katakomben auf Kinderfang. Am liebsten fangen sie die Waisenkinder, die in einer skurrilen Drillanstalt dem Leben und dem Taschendiebstahl nähergebracht werden.

Die Stadt der verlorenen Kinder spielt wohl im 19. Jahrhundert, und mitsamt den Ratten und dem morschen Stadtrumpf schwimmt die Welt schon weit vor unserer Zeit kieloben. Wenn da nicht die Kinder wären. In traumwandlerischer Souveränität nehmen sie den Schrott zur Kenntnis und begegnen aller oben genannten Unbill mit seelenlosem Zynismus, der sich als Rettungsanker erweist. Lassen wir also diese Kindlein zu uns kommen, daß sie das Ruder des Erdenschiffs noch herumreißen?

Die Macht der Kinder ist ein altes Motiv, das in vielen Märchen erzählt wurde. Bei Jeunet & Caros neuem Film bohren sich die Kulissen der Zerstörung in die Träume der Zuschauer. Die Kinder und die Geschichte jedoch bleiben in dumpfer Eigendynamik zurück.

Elsa Freese