Ist Abtreibung Mord?

Die Diskussion um Abtreibung hat häufig einen religiösen Hintergrund. Selten wird dabei berücksichtigt, daß jüdische und christliche Lesarten der Bibel an diesem Punkt auseinandergehen. Während Katholiken und Protestanten die Seele des Fötus ins Zentrum ihrer Gedanken rücken, konzentriert sich die jüdische Tradition auf das Leben der Mutter. Überlegungen jüdischer Feministinnen in den USA erweitern jedoch den Blick – auch auf die europäischen Debatten um Abtreibung  ■ Von Leila Bronner

Die hebräische Fassung der Bibel bezeichnet Abtreibung weder ausdrücklich als Mord noch lehnt sie Abtreibung explizit ab. Die entscheidende Passage findet sich in Exodus 21, 22-23 (2. Buch Mose):

„Wenn zwei Männer miteinander streiten und stoßen dabei eine schwangere Frau, so daß ihr die Frucht abgeht, ihr aber sonst kein Schaden widerfährt, so soll man ihn um Geld strafen, wieviel ihr Ehemann ihm auferlegt, und er soll's geben durch die Hand der Richter. Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben.“

Dieser Text bedeutet zweierlei: Erstens, daß die Mutter als eigenständige Person, als vom Leben des Fötus unabhängiges Leben begriffen wird, denn die Strafe für ihren Tod ist die Strafe für Mord. Zweitens, daß der Fötus nicht als unabhängiges Leben gesehen wird, denn die Strafe für die versehentliche Abtreibung des Fötus ist eine Geldstrafe. Wer unter den geschilderten Umständen den Abgang eines Fötus verursacht, begeht ein Vergehen, aber kein Kapitalverbrechen.

In der jüdischen Tradition beziehen sich nur wenige Texte auf den Fötus und somit auch auf Abtreibung. Der Talmud, der nach der Bibel das Hauptwerk des Judentums ist, konstatiert, daß der Fötus in den ersten 40 Tagen als reine Flüssigkeit im Mutterleib zu gelten hat (Yevamot 69b). An anderer Stelle beschreibt der Talmud den Fötus zweimal als „Teil der Mutter“. In Gittin 23b beispielsweise, wo es um die juristischen Möglichkeiten geht, eine Sklavin freizulassen, wird die Frage diskutiert, ob dies den Fötus in der Frau mit einschließt. Die Rabbiner bejahen das.

Auch die Erörterung in Arakhin 7a scheint diese Position zu bestätigen. Denn bei der Auslegung der Frage, ob eine verurteilte Schwangere sofort hingerichtet werden sollte oder erst nach der Geburt, neigen die Schriftgelehrten dazu, die sofortige Hinrichtung zu empfehlen.

„Wird eine Frau zur Hinrichtung hinausgeführt, so warte man nicht, bis sie geboren hat; sitzt sie auf dem Gebärstuhle, so warte man damit, bis sie geboren hat.“

Der entscheidende Rabbinertext zur Abtreibung findet sich bei Mischna Oholot 7,6. Erneut ist der Fötus keine Person, solange er sich im Leib befindet. Während der Geburt erst wird er zur Person, zum Kind – sobald der Kopf oder größere Teil des Körpers zu sehen sind.

„Wenn eine Frau starke Wehen hat (so daß ihr Leben gefährdet ist), soll das Kind herausgeschnitten werden, während es noch im Körper ist, und Stück für Stück heraugebracht werden, weil das Leben der Mutter Vorrecht hat vor dem Leben des Kindes. Aber wenn der größere Teil schon geboren ist, darf ihm nichts angetan werden, weil das eine Leben nicht über dem anderen steht.“

Weitere Hinweise darauf, daß die jüdische Tradition einen Fötus nicht als von der Mutter unabhängig erachtet, finden sich in den Gesetzen des Sabbat. Es ist mit Sicherheit zulässig, den Sabbat zu entweihen, um eine Mutter zu retten. Aber der Talmud widmet viele Seiten der Frage, ob es erlaubt ist, dasselbe für einen Fötus zu tun.

In Arakhin 7a entscheiden die Schriftgelehrten, daß am Sabbat einer Mutter, die vor der Geburt stirbt, das Kind entnommen werden kann. Hier gilt der Fötus folglich als Person und nicht länger als abhängig von der Mutter: Denn der Sabbat darf entweiht werden, um das Kind zu retten.

Daß aber diese Frage überhaupt erörtert wurde, zeigt, daß normalerweise der Fötus stets als Teil der Mutter verstanden wird. Und, wichtiger noch: Daß bereits existierendes menschliches Leben Vorrang hat vor dem möglichen Leben.

Das jüdische Recht sagt also zur Frage der Abtreibung folgendes: Abtreibung kann nicht als Mord gelten. Das Leben der Mutter hat Vorrang vor dem Leben des Fötus. Und der Fötus besitzt vor seiner Geburt kein Leben getrennt von der Mutter. Natürlich bleibt Abtreibung dennoch ein moralisches und ethisches Problem für viele Juden. Aber die konkrete Entscheidung wird im Einzelfall getroffen, in Abstimmung mit der Familie und dem Rabbi sowie unter Berücksichtigung spiritueller, körperlicher, emotionaler und sozioökonomischer Faktoren.

Die Sicht der römisch-katholischen Kirche zur Abtreibung indes geht zurück auf eine fehlerhafte griechische Übersetzung von Exodus 21, 22-23. Sie stammt aus dem dritten Jahrhundert vor Christus und wird dem hebräischen Original nicht gerecht.

Denn sie ändert das hebräische Wort für Schaden, ason, (siehe die oben zitierten Verse aus Exodus 21, d.Red.) in ein Wort, das im Griechischen „Form, Gestalt, Ikone“ bedeutet – was ason auf keinen Fall heißen kann. Außerdem verändert die Übersetzung die grammatikalische Konstruktion dergestalt, daß sich ason auf den Fötus bezieht anstatt auf die Mutter.

Mit anderen Worten: Diese mangelhafte Übersetzung mißt dem Fötus einen vom Leben der Mutter unabhängigen, eigenen Wert bei. Dieser wiederum bemißt sich nach den Stadien seiner Entwicklung: Hellenistisch geprägte Juden erörtern im ersten Jahrhundert den Wert eines Fötus abhängig davon, ob er „geformt“ oder „ungeformt“ ist, „ausgebildet“ oder „verkümmert“. Sie betrachten nur den ausgeformten Fötus als ganze Person, legen aber nicht im Detail fest, ab welchem Monat ein Fötus seine „Form“ erreicht hat.

In der katholischen Kirche konzentrierte sich die Debatte um Abtreibung später auf die Frage, wann Leben beginnt, genauer: Wann die Seele in den Körper des Fötus einzieht. In der jüdischen Tradition spielt die Frage der Beseelung keine Rolle. Im Gegensatz dazu erhebt die katholische Kirche die Beseelung zum zentralen Thema, weil sie lehrt, daß eine ungetaufte Seele zu ewiger Verdammnis verurteilt ist. Aus diesem Grund sollte aus katholischer Sicht auch eine zum Tode verurteilte Schwangere bis nach der Geburt am Leben gelassen werden. Würde die Mutter während der Schwangerschaft hingerichtet, wäre die Seele des Fötus verloren, weil er ungetauft ist. Die frühen Kirchenväter hatten durchaus unterschiedliche Meinungen über den Zeitpunkt der Beseelung. Der römische Klerus erhob schließlich seine Ansicht zum Dogma – daß die Beseelung bei der Empfängnis geschehe.

Im Amerika des 20. Jahrhunderts steht die entscheidende Frage – Ist Abtreibung Mord? – nun vor dem weltlichen Berufungsgericht, nämlich der Wissenschaft. Die Gesetze gestatten Abtreibung in den ersten drei Monaten nach der Empfängnis und legen dafür Erkenntnisse aus der modernen Biologie und das Recht auf Selbstbestimmung zugrunde.

Die Frage, wann Leben beginnt, wird von Juristen außen vor gelassen. Und auch die Wissenschaft kann keinen empirischen Nachweis für den Moment vorlegen, an dem Leben beginnt. Sie beschäftigt sich mit physischen, nicht mit metaphysischen Fragen. Entsprechend unaufgeregt äußert sich deshalb zum Beispiel der Direktor des Biosystems Research Institute im kalifornischen La Jolla. Er meint, sowenig es Brandstiftung sei, den Bauplan für ein Haus zu verbrennen, sowenig stelle die Zerstörung einer befruchteten Eizelle – des Bauplans für mögliches Leben – einen Mord dar.

Auf absehbare Zeit werden weder Anwälte noch Ärzte, weder Wissenschaftler noch Theologen eine allgemein akzeptable Antwort auf die Frage finden, wann Leben beginnt. Wen das Thema Beseelung beschäftigt, der wird sich unweigerlich der Religion zuwenden, insbesondere dem Dogma der katholischen Kirche. Menschen, die diesen Aspekt für unwesentlich halten, die sich aber biblisch orientieren wollen, werden sich daran halten, daß das Augenmerk der Bibel stets dem Wohl des Geborenen vor dem des Ungeborenen gilt. Ein „unantastbares Recht auf Leben für das ungeborene Kind“ ergibt sich aus der Bibel jedenfalls nicht.

So sind wir also zum Kern der Unterschiede zwischen Abtreibungsbefürwortern und –gegnern sowie zwischen jüdischen und katholischen Traditionen vorgestoßen: Zu den Fragen, ab wann ein Fötus als menschlich (oder beseelt) gelten kann, und ob das Leben der Mutter Vorrang genießt gegenüber dem Leben des Fötus. Die Probleme mit der Abtreibung bleiben gleichwohl bestehen.

Denn zum einen verfügen wir nicht über einen weltlichen Weg, mit der religiösen Doktrin der Beseelung umzugehen. Zum anderen übersehen wir normalerweise, daß Beseelung verknüpft ist mit einer ganz bestimmten religiösen Tradition.

In den USA wird die Abtreibungsdebatte oft unter einem säkularen Deckmantel geführt – obwohl unsere Haltungen von religiösen Lehren geprägt sind. Selbst in einer säkularen Gesellschaft wie der unseren sind aber die Unterschiede in den religiösen Traditionen maßgeblich – und dies nicht nur, weil die Bibel bis heute Moralvorstellungen beeinflußt: Einer Frau zu sagen, sie begehe einen Mord, wenn sie abtreibt, ist etwas grundlegend anderes, als ihr zu bescheinigen, daß Abtreibung moralisch gesehen ein schwieriges Thema ist.

Authentischere moralische und religiöse Überlegungen könnten durchaus dazu beitragen, die Abtreibungsdebatte in einem neuen Licht zu sehen – einem Licht, das unseren historischen Quellen gerechter wird und auch der multireligiösen Gesellschaft, in der wir leben – als Feministinnen und Juden.

Leila Bronner war Professorin an der Uni Witwatersrand in Johannesburg, Südafrika, sowie an der Uni für Judaistik in Los Angeles, USA. Zuletzt veröffentlichte sie eine Studie über biblische Frauengestalten im Spiegel rabbinischer Texte: „From Eve to Esther“.

Ihren Text entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung Lilith, einer in New York erscheinenden unabhängigen Vierteljahresschrift für jüdische Frauen, die sich seit 1976 mit Frauenthemen im jüdischen Alltag beschäftigt und für jüdische Belange in der Frauenbewegung eintritt. Adresse: Lilith, 250 West 57th Street, New York, NY 10107. E-Mail: