■ Das Lächeln hat sich in nichts aufgelöst. Nun starrt jeder dumpf vor sich hin ...
: In deinen Aufzügen, Deutschland

Im Aufzug kann man viel über die Mentalität einer Nation erfahren. Dabei meine ich hier nicht nur die Kritzeleien, die um so mehr werden, je südlicher das Land. Viel aufschlußreicher ist das Verhalten der Mitfahrenden. Dort, wo ich herkomme, würde es keinem Neueingestiegenen einfallen, die übrigen Fahrgäste zu begrüßen. Dafür ist es aber selbstverständlich, daß sich man/frau sofort und ohne jede höfliche Einleitung über Tagesaktuelles (Politik, nachbarschaftliche Verhältnisse, Fußball, Büroklatsch usw.) auslassen kann. Dort ist die Aufzugsfahrt nicht so sehr der kürzeste Weg zwischen Punkt A und Punkt B, sondern eher ein gesellschaftliches Ereignis.

Ganz anders in Deutschland. Hier steigt man in den Aufzug mit einem einzigen Ziel ein: so schnell wie möglich auszusteigen. Allerdings versucht man das durch manchmal sehr ausgeklügelte Mittel zu verbergen. Ob im Büro- oder im Wohnhaus, jeder stürmt in den Aufzug mit einem energischen, nicht unbedingt wohlgemeinten „Hal-lo-o!“. Der Unerfahrene kriegt sofort das angenehme Gefühl, der Neueingestiegene würde sich auf die Begegnung über alle Maßen freuen. Mit der Fahrzeit jedoch schwindet dieses Gefühl allmählich, da das vielversprechende „Hal-lo-o!“ meistens ohne weitere Kommunikationsergebnisse auf der Strecke bleibt. Auch das anfängliche Lächeln (eher eine Lachgrimasse als der Ausdruck wahrer Freude) hat sich im Nichts aufgelöst, und nun starrt jeder im deutschen Aufzug dumpf und angestrengt vor sich hin mit dem einzigen Wunsch, die anderen so schnell wie nur möglich loszuwerden.

Die Frustration steigt mit jeder Etage, und der Unerfahrene bekommt langsam ein schlechtes Gewissen, als ob er gerade dem Nachbarn das Kabriodach aufgeschlitzt hätte. Allerdings lernt man mit der Zeit, daß es einige Rettungswege aus dieser Peinlichkeit gibt. So kann sich einer echt glücklich schätzen, falls in der Kabine gewisse kleinere Objekte zum Beobachten und Kommentieren liegen bzw. stehen. Ein Baby, ein Hund, ja sogar ein nasser Regenschirm tun es ganz ordentlich. Zu dem Baby zum Beispiel kann man immer gefahrlos bemerken, es sei größer geworden, da Babys üblicherweise eben größer und nicht kleiner werden. Anders aber mit dem Hund. Die Bemerkung, er/sie sei immer ein freundliches Wesen gewesen, wäre hier passender. Was den nassen Regenschirm betrifft, bietet er jederzeit einen guten Anlaß zu der Feststellung, daß es wieder zu regnen angefangen hat. Nach all diesen kommunikativen Heldentaten fühlt sich nun der Unerfahrene von dem unerklärlichen Schuldgefühl fast befreit, und im deutschen Aufzug herrscht eine beinahe lockere Stimmung. Bis auf der nächsten Etage die munteren „Mahlzeit!“- Fahrgäste einsteigen. Dies ist eine besondere, für den Fremdling unbekannte und furchterregende Spezies: Männer mit gepflegtem Schnurrbart und Handy, in Sakkos und mit bunten Krawatten, die einen sofort mit dem blutrünstigen Ausruf „Mahlzeit!“ erschrecken. „Mahlzeit!“ überlegt der mäßig deutschkundige Fremdling. „Kommt das nicht von mahlen? Und was, um Gottes willen, wird hier gemahlen? Wohl nicht ich, oder?“ In Panik geraten, versucht er mit dem altbewährten „Hal-lo-o!“ auszuweichen, das Mahlzeitkommando aber läßt nicht locker. Eine lange Sekunde beobachtet der Anführer (der mit dem größten Schnurrbart und dem kleinsten Handy) überprüfend den Fremdling und wiederholt dann bedrohlich buchstabierend: „M-a-h-l-z-e- i-t!“ Dieser Feuerstoß nagelt den Unerfahrenen endgültig an der Aufzugswand fest. „Schluß, Ende!“ denkt er schicksalergeben. „Jetzt wird gemahlen! Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!“ Zu diesem Zeitpunkt könnte man in unserem kleinen Aufzugsdrama eine Peripetie einführen: Einige Fahrgäste steigen aus und sorgen damit für Entspannung. „Tschö-ö-ö!“ rufen sie im Chor, doch das ist kein Abschiedsgruß, es ist vielmehr ein Erleichterungsseufzer. „Und schönen Tag noch!“ fügt einer zähneknirschend hinzu. In der spannungsgeladenen Aufzugsluft entsteht ein kleines Gewitter aus sich überkreuzenden „Schönen Tag noch!“-Wünschen, die sich aber eher wie „Gott, bin ich froh, endlich hier weg zu sein!“ anhören.

In Schweiß gebadet bleibt der Fremdling zuletzt allein in der Kabine. Alle sind ausgestiegen, mit dem Baby oder dem Regenschirm spazierengegangen, den Hund Gassi geführt, gemahlt oder was auch immer. Er hat aber viel dazugelernt. Ohne Schweiß kein Preis! Alexander Andreev

Der Autor ist gebürtiger Bulgare und lebt als Journalist in Köln