Symbolhaftes Eiszerhacken

■ „The Butcher Boy“ von Neil Jordan im Wettbewerb: Irland mal ohne Bomben, dafür mit wichsenden Priestern, die auf kleine Jungs stehen, viel Sarkasmus und inseltypischem Humor

Der zweite irische Wettbewerbsbeitrag neben „The Boxer“ ist Neil Jordans „The Butcher Boy“. „Der Schlächterbursche“ spielt Anfang der sechziger Jahre am anderen Ende Irlands. Hier rollen keine Panzerwagen durch die Städte, Autobomben kennt man höchsten aus dem Fernsehen. In dem Provinznest, in dem der junge Filmheld Francie Brady heranwächst, muß man seine Phantasie schon an einer sehr langen Leine laufen lassen, um Spaß zu haben.

Und den hat Francie. Zum Beispiel, wenn er die Nachbarin auf dem Gehweg anhält und sie dreist wie ein Mafioso um einen nicht geringen Wegzoll anhaut. Außer Francie übt hier richtigen Terror nur das unverschämte Grün der Wiesen aus. Der Junge aber sieht Atombomben im Fernseher explodieren, Comic-Helden sterben, und als er mit seinem Freund Joe an ihrem Lieblingssee steht, kocht dieser plötzlich über: eine A-Bombe direkt vor der Haustür.

Joe, realistischer und bodenständiger als der rothaarige Francie, hat natürlich nichts bemerkt vom irischen Urknall. Jordans „Butcher Boy“ basiert auf einer Erzählung des Autors Patrick McCabe. Der Roman ist das, was man gemeinhin wohl unverfilmbar nennt. Als Jordan gerade „Interview mit einem Vampir“ schnitt, schrieb er parallel das Skript zu „Butcher Boy“. McCabes und Jordans sarkastischer, vielleicht wirklich inseltypischer Humor scheinen sich prima zu ergänzen. McCabe: „Über Priester mit Alien-Köpfen kann ich immer lachen. Oder wenn eine Frau sagt: „Das wird ein harter Tag für unsere Stadt, wenn die Welt untergeht.“ Da die Geschichte von Francies Aufwachsen und seine täglich neue Eskapaden liefernde Phantasieproduktion als Story schon ziemlich verrückt sind, versuchte Jordan die aus dem Blickwinkel des Jungen erzählte Geschichte dadurch in den Griff zu bekommen, daß er wenigstens keine „typisch irischen“ (Jordan) Schauspieler engagierte. Denn die tendieren zu Übertreibungen. Jordan versucht dem Absurden eine Balance zu geben, indem er lauter absurde Episödchen relativ konventionell erzählt und diese von einem Off-Erzähler kommentieren läßt: „Eine ganz eigentümliche Stimmung durchzieht das Buch – sie schwankt zwischen herzzerreißenden Trauerszenen, unterschwelliger Brutalität und einer oben drauf gesetzten, rhythmisch eingestreuten Komik, die alles zusammenhält. Es handelt sich also um eine Art Komödie, die nicht komisch ist.“ Und so ist „Butcher Boy“ die Dokumentation eines kindlichen Aufbegehrens gegen die Erwachsenen.

Francie verstößt permanent gegen die Regeln einer ängstlichen, repressiven Sechziger-Jahre-Gesellschaft. Das Eis, das er mit seinem Freund Joe in dem kleinen Dorfbrunnen symbolhaft aufhackt, will nicht zerbrechen. Scheinheilig gesellt sich ein Pfaffe zu den beiden und hackt mit. Die Priester sind nicht nur bis auf die Knochen verlogen, sie stehen auch noch auf kleine Jungs. Im ersten Erziehungsheim, in dem Francie landet, nachdem er die unzähligen Torten seiner Haßnachbarin an deren Küchenwänden zerdrückt hat, und dann beim Schiß auf den Wohnzimmerteppich überrascht wurde, holt sich der Priester einen runter, während Francie phantasievoll beichtet. Das, und eine Marien-Erscheinung (echt sexy popsongsingend von Sinead O'Connor gedoubelt), die Francie bei der Zwangsarbeit auf dem Kartoffelacker hat, ist sein Ticket zurück in die Freiheit der Dorfnormalos. Jetzt geht der Spaß erst richtig los. Francie wird zum Butcher Boy, schleppt Schweinelenden durch die Straßen, schockt alte Quasselweiber. Pech für die spießige Nachbarin: Im religiösen Reinigungsamoklauf hält Francie sie für die Dorfsau. Andreas Becker

Wettbewerb: heute, 22.30 Uhr, Zoo Palast; 15.2., 15 Uhr, Royal Palast; 21 Uhr, Urania